Der SPD-Chef über Wege zur Entlastung von Geringverdienern, die Griechenland-Krise und die Suche nach dem nächsten Kanzlerkandidaten.
Hamburg. Auf Besuch in der Hansestadt, wo bis vor Kurzem CDU und Grüne regierten, setzt Sigmar Gabriel die beiden Parteien schon mal gleich. Ihre Vorstellungen von Energiepolitik gefährdeten den Industriestandort Deutschland, kritisiert der SPD-Vorsitzende und frühere Umweltminister im Abendblatt-Interview. In der Steuerdebatte wiederum setzt Gabriel auf einen Unionsmann: Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) soll in der Bundesregierung sein Veto gegen Steuersenkungen auf Pump einlegen.
Hamburger Abendblatt: In Hamburg regiert die SPD mit absoluter Mehrheit, im Bund liegt sie stabil unter 30 Prozent. Was können Sie von Olaf Scholz lernen, Herr Gabriel?
Sigmar Gabriel: Olaf Scholz macht eine Politik, die wirtschaftlichen Erfolg und sozialen Zusammenhalt verbindet. Das ist ein gutes Programm für die SPD bundesweit.
Wer gehört zum Kreis der möglichen Kanzlerkandidaten?
Gabriel: Mir geht es nicht um den Kandidaten. Ich möchte, dass die SPD den nächsten Kanzler stellt.
Peer Steinbrück, so ist zu lesen, bereitet heimlich schon seine Kandidatur vor. Beunruhigt Sie das?
Gabriel: Ich empfehle, das gegenseitige Abschreiben von Medienspekulationen nicht zur Tatsache zu erklären. Die Entscheidung fällt frühestens 2012.
Die SPD diskutiert darüber, den Kanzlerkandidaten in einer Vorwahl nach amerikanischem Vorbild zu bestimmen. Was spricht dafür?
Gabriel: Es geht bei dieser Öffnung nicht um die Vorbereitung einer Kanzlerkandidatur. Es geht um viel mehr: um die Alltagstauglichkeit der Parteien in der parlamentarischen Demokratie. Die Distanz zwischen der Bevölkerung und den politischen Parteien wächst. Viele Menschen wollen sich nicht mehr ein Leben lang an Großorganisationen binden. Ich halte es für wichtig, dass Menschen, die zu unseren Sympathisanten zählen, aber nicht Mitglied werden wollen, bei uns mitmachen können.
Was bedeutet das für die Kandidatenkür?
Gabriel: Personalentscheidungen über Vorwahlen zu treffen ist kein Allheilmittel. Aber die Urwahl unseres Spitzenkandidaten in Schleswig-Holstein hat gezeigt, dass es funktionieren kann. Die Gliederungen der SPD, die Vorwahlen unter Beteiligung von Nicht-Mitgliedern abhalten wollen, sollen dies auch dürfen. Dafür wollen wir einheitliche Bedingungen schaffen. Aber wir werden niemanden zu irgendetwas zwingen.
Sie stoßen Parteimitglieder vor den Kopf, wenn Sie Nichtmitglieder mitentscheiden lassen ...
Gabriel: Ich will die Mitgliedschaft stärken, nicht schwächen. Es geht auch nicht darum, Nichtmitgliedern die gleichen Rechte zu geben. Schon das Parteiengesetz schreibt vor, dass die Mitglieder bei Personalentscheidungen das letzte Wort haben. Aber die SPD hat jetzt zum ersten Mal seit 1906 weniger als 500 000 Mitglieder, das können wir nicht ignorieren. Mein Ziel ist es, Nichtmitglieder zu Interessierten und Interessierte zu Mitgliedern zu machen.
Amüsiert es Sie, dass auch die Grünen erwägen, einen Kanzlerkandidaten aufstellen?
Gabriel: Ich habe damit überhaupt kein Problem, aber ich zerbreche mir auch nicht den Kopf der Grünen.
Wie wollen Sie verhindern, dass die SPD hinter den Grünen landet?
Gabriel: Denken Sie nur an Hamburg: Die Politik des schwarz-grünen Senats war katastrophal. Ein Beispiel: Weder CDU noch Grüne interessieren sich für die Strompreise, die energieintensive Unternehmen zahlen müssen. Wenn wir da nicht aufpassen, werden Tausende Menschen ihren Job verlieren. Deutschland muss Industriestandort bleiben. Dafür braucht man eine Partei, die realistische Politik macht. Das ist die SPD.
Die Grünen wollen der schwarz-gelben Energiewende zustimmen. Die SPD etwa nicht?
Gabriel: Ich kann mir vorstellen, dass wir dem Atomgesetz zustimmen. Ob das bei den anderen Gesetzen auch so sein wird, wird sich diese Woche zeigen. Der von der Bundesregierung vorgelegte Entwurf für das Erneuerbare-Energien-Gesetz war schlicht Murks. Ich bin sehr froh, dass unsere Ministerpräsidenten Hannelore Kraft und Olaf Scholz in den Verhandlungen entscheidende Verbesserungen haben durchsetzen können. Das betrifft vor allem die industriepolitischen Fragen.
Sie haben die Steuersenkungspläne der Regierung als "glatten Verfassungsbruch" verurteilt. Werden Sie in Karlsruhe gegen die Entlastung unterer und mittlerer Einkommen klagen?
Gabriel: Die Schuldenbremse im Grundgesetz zwingt uns zum Glück dazu, höhere Steuereinnahmen zur Schuldentilgung einzusetzen. Was wir zusätzlich wollen, müssen wir mit Minderausgaben finanzieren. Die Planungen von Union und FDP sind verfassungswidrig. Eine Steuersenkung auf Pump wird es mit der SPD nicht geben. Wolfgang Schäuble, den ich wirklich sehr schätze, muss im Kabinett sein Veto einlegen. Der Finanzminister hat nach unserer Verfassung im Kabinett eine Sonderstellung, die muss er nutzen. Schäuble ist der Einzige in der Bundesregierung, der nicht nur Parteitaktik im Blick hat.
Vizekanzler Rösler wirft der SPD vor, ihre Kernwählerschaft zu verraten ...
Gabriel: Mehr als 40 Prozent der Haushalte in Deutschland zahlen keine Einkommenssteuer, weil sie so wenig verdienen oder Kinder haben. Das ist ein Erfolg sozialdemokratischer Steuerpolitik.
Eine Arbeitsgruppe unter Leitung von SPD-Fraktionsvize Poß spricht sich für Steuermehreinnahmen aus. Werden die Sozialdemokraten als Steuererhöhungspartei in den Wahlkampf ziehen?
Gabriel: Ganz bestimmt nicht. Aber wir werden nichts versprechen, was wir nicht finanzieren können. Wir machen keine Politik auf Pump. Das unterscheidet uns von Union und FDP.
Welcher Spitzensteuersatz schwebt Ihnen vor?
Gabriel: Wir wollen, dass die Verantwortung für unser Land gerechter verteilt wird. Aber auch wir Sozialdemokraten wollen nicht zurück zum Spitzensteuersatz von Helmut Kohl. Da lag er bei 53 Prozent! Wir bleiben garantiert deutlich darunter.
Unionsfraktionschef Kauder stellt eine Senkung der Sozialversicherungsbeiträge in Aussicht ...
Gabriel: Für Sozialabgaben gilt dasselbe wie für Steuern: Eine Senkung auf Pump ist mit der SPD nicht zu machen. Wenn Herr Kauder vorschlagen sollte, niedrigere Sozialversicherungsbeiträge mit einem höheren Spitzensteuersatz zu finanzieren, könnten wir darüber reden.
Wenn die öffentlichen Haushalte unterfinanziert sind - warum werden dann immer neue Milliarden für Griechenland bereitgestellt?
Gabriel: Das Schlimme ist: Wir müssten noch viel mehr zahlen, wenn wir den Euro nicht stabilisieren würden. Hamburg ist unser Tor zur Welt und nach Europa. Zwei Drittel der deutschen Exporte gehen in die EU. Wenn es Europa schlecht geht, geht es am Ende auch Deutschland schlecht. Ich habe keinen Spaß daran, Regierungen zu helfen, bei denen früher Korruption an der Tagesordnung war. Aber ich weiß: Wenn wir das so laufen lassen, zahlen vor allem wir Deutschen die Zeche.
Dann macht die Merkel-Regierung ja alles richtig.
Gabriel: Man weiß seit mehr als einem Jahr ja gar nicht, was Frau Merkel wirklich will. Sie hat in der Euro-Krise häufiger ihre Meinung geändert als bei der Atomenergie. Sie hat mit ihrem Schlingerkurs die Spekulationen gegen den Euro erst richtig angeheizt. Die Regierungschefs in der Eurozone denken alle nur kleinlich an ihren nationalen Vorteil. Vom europäischen Geist eines Helmut Schmidt ist nichts zu spüren. Jetzt kommt es auf drei Dinge an. Erstens werden wir über einen harten Verzicht auf Rückzahlung der griechischen Schulden reden müssen - in der Größenordnung von 40 bis 60 Prozent. Daran müssen sich auch private Gläubiger beteiligen. Zweitens: Um Spanien, Portugal und Irland zu stabilisieren, müssen wir einen Teil ihrer Schulden mit Eurobonds absichern. Und drittens brauchen wir eine Finanztransaktionssteuer. Es kann nicht sein, dass die Märkte von der Globalisierung profitieren, aber nichts zur Finanzierung der von ihnen mitverschuldeten Krise beitragen.
In Griechenland gehen die Menschen auf die Straße, weil sie den Sparkurs ihrer Regierung ablehnen. Ist in Deutschland mit Protesten gegen die Milliardentransfers zu rechnen?
Gabriel: Das glaube ich nicht. Die Deutschen wissen: Der Wohlstand in unserem Land hängt davon ab, dass es anderen Ländern gut geht. Wobei das Verhalten der Regierung natürlich gefährlich ist. Frau Merkel hat sich als eiserne Kanzlerin abbilden lassen, die keinen Cent für Griechenland gibt, als schon klar war, dass Deutschland zahlen muss. Wer Beruhigungspillen verteilt und nicht die Wahrheit sagt, darf sich nicht wundern, wenn das Vertrauen in die Politik schwindet
Sollten die Bürger stärker an so schwerwiegenden Entscheidungen beteiligt werden?
Gabriel: Ich habe mich immer für Volksentscheide eingesetzt. Eine stärkere Beteiligung der Bevölkerung an den wichtigen Entscheidungen in Deutschland und Europa halte ich für die einzige Möglichkeit, die Kluft zwischen Politik und Bürgern zu verringern. Bei den Griechenland-Hilfen ist es allerdings nicht so einfach.
Warum?
Gabriel: Weil man nicht monatelang das Vertrauen in Europa ruinieren kann, um dann eine Volksabstimmung abzuhalten. Frau Merkel hat in der politischen Führung komplett versagt. Sie hätte von Anfang an die Wahrheit sagen müssen: Wenn wir Griechenland nicht helfen, geht es uns selber schlechter. Die Kanzlerin hat darauf verzichtet. Jetzt ist die Wut riesengroß.