Die Opposition spricht von einem „Waterloo“ der Bundeskanzlerin. Der Atomausstieg wirft Fragen zu Stromreserven und Klimazielen auf.
Berlin. Es war der erwartet historische Beschluss im Bundestag, der eine heftige politische Debatte krönte: Als erste führende Industrienation steigt Deutschland bis zum Jahr 2022 endgültig aus der Atomenergie aus. Nur wenige Monate nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima machte der Bundestag mit einem parteiübergreifenden Konsens von Union, FDP, SPD und Grünen den Weg in das atomfreie Zeitalter frei. Es gab 513 Ja- und 79 Nein-Stimmen sowie 8 Enthaltungen. Acht Atomkraftwerke werden sofort stillgelegt, die übrigen neun AKW stufenweise bis 2022. Union, FDP, SPD und Grüne stimmten für eine entsprechende Änderung des Atomgesetzes. Die Linke forderte einen früheren Ausstieg. Mit dem Beschluss wird die erst im Herbst beschlossene Laufzeitverlängerung um bis zu 14 Jahre zurückgenommen und für jedes der verbleibenden neun Atomkraftwerke ein festes Abschaltdatum eingeführt.
SPD und Grüne werteten die Entscheidung als ihren Erfolg, weil Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihre Regierung weitgehend zum rot-grünen Ausstiegsbeschluss von 2001 zurückgekehrt ist. Merkel zeigte sich auf der Regierungsbank nachdenklich, aber auch beschäftigt. Neben Wirtschaftsminister Philipp Rösler (der sich auch mit seinem Mobiltelefon beschäftigte) simste die Kanzlerin eifrig.
Bis zum September soll die Bundesnetzagentur entscheiden, ob eines der acht stillgelegten AKW für den Fall von Stromengpässen bis 2013 in Bereitschaft bleibt. Die Reihenfolge der Abschaltung bei den neun verbleibenden Atommeilern ist diese: 2015 Grafenrheinfeld, 2017 Gundremmingen B, 2019 Philippsburg II, 2021 Grohnde, Brokdorf und Gundremmingen C sowie 2022 Isar II, Neckarwestheim II und Emsland.
„Der Tag bedeutet nichts anderes als ihr energiepolitisches Waterloo – denn ihr Ausstieg ist unser Ausstieg“, sagte SPD-Parteichef Sigmar Gabriel. „30 Jahre Häme, 30 Jahre Beleidigung, die wir von ihnen ertragen mussten – das ist ein großer Tag für uns.“
Kanzlerin Angela Merkel fahre nicht nur in der Energiepolitik einen Schlingerkurs, der Menschen und Wirtschaft verunsichere. „Hören sie einfach auf, das wäre der beste Neustart für unsere Republik, den wir uns vorstellen können“, rief Gabriel der Kanzlerin zu. Die Grünen nannten den Atom-Ausstieg bis 2022 einen Erfolg der Anti-AKW-Bewegung: „Dieser Schritt gehört diesen Menschen“, sagte Fraktionschefin Renate Künast.
Der WWF begrüßte den Atomausstieg: „Wir sind froh über die neue energiepolitische Richtung der Bundesregierung und begrüßen, dass es bei dieser zukunftsweisenden Entscheidung heute einen weitgehenden parteiübergreifenden Konsens im Parlament gegeben hat“, sagte Eberhard Brandes, Vorstand des WWF Deutschland. „Wenn uns in Deutschland der Umstieg in eine überzeugende, risikoarme und klimafreundliche Energieversorgung gelingt, wird dies enorme Ausstrahlungskraft haben. Das Entwicklungsmodell in Deutschland kann dann zum weltweiten Vorbild werden“, so WWF-Vorstand Brandes.
Greenpeace Aktivisten protestierten vor dem Kanzleramt mit einem Banner: „Jeder Tag Atomkraft ist einer zu viel!“ Aus Sicht von Greenpeace ist der Atomausstieg ein Schritt in die richtige Richtung. Die Organisation kritisiert jedoch, dass Deutschland erst 2022 endgültig aussteigt. „Die andauernde Tragödie von Fukushima und der notwendige Schutz der Menschen vor einem GAU in Deutschland verlangen einen schnelleren Ausstieg bis 2015. Dieser wäre realistisch und ohne große Schwierigkeiten umsetzbar“, so Greenpeace in einer Mitteilung.
Als Ersatz für die schon abgeschalteten acht Kernkraftwerke werden alte Kohlemeiler wieder angefeuert. Zudem sollen allein bis 2013 neue fossile Kraftwerke mit zehn Gigawatt Leistung fertig gebaut werden, bis 2020 dann noch einmal so viele. Schon heute fragen Skeptiker, ob das alles überhaupt reicht und was mit so viel Kohle und Gas aus den deutschen Klimazielen werden soll.
Tatsächlich sieht die Bundesnetzagentur als zuständige Behörde erhebliche Unsicherheit, ob nach dem plötzlichen Aus für die Hälfte der Atomreaktoren derzeit genügend Kraftwerke bereit stehen, um den Energiehunger zu Spitzenzeiten im Winter zu stillen. Erwogen wird deshalb, ein abgeschaltetes Atomkraftwerk als „Kaltreserve“ auf Standby zu halten. Atomkritische Wissenschaftler und das Umweltbundesamt halten jedoch dagegen: Die Kapazität reiche und das Klima müsse auch keinen Schaden nehmen.
Dabei argumentieren die Experten teilweise mit recht unterschiedlichen Zahlen. Unstrittig ist, dass die 17 deutschen Atomkraftwerke eine Gesamtleistung von netto rund 20,5 Gigawatt (20.500 Megawatt) liefern konnten. Mit der sofortigen Stilllegung der sieben ältesten Reaktoren und des Pannenmeilers Krümmel fallen 8,4 Gigawatt weg.
Das Umweltbundesamt argumentiert, das sei nicht schlimm, denn gleichzeitig gebe es „überschüssige Reservekapazitäten von rund zehn Gigawatt Leistung“. Das Vorhalten von Atomkraftwerken als Kaltreserve sei somit nicht nötig, schreiben die Experten in einer Analyse zum Atomausstieg.
Die Bundesnetzagentur geht bei ihrer Analyse überschüssiger Kapazitäten anders vor und kommt damit auf ganz andere Ergebnisse: Mit einer Umfrage bei den großen Energieversorgern ermittelte sie nur 520 Megawatt Kaltreserve, wie eine Sprecherin sagt. Doch hält die Behörde mindestens 1000 Megawatt für nötig. Bis August will die Behörde deshalb prüfen, ob für die kommenden beiden Winter doch noch einer der alten Atomreaktoren für den Notfall bereit stehen soll.
„Kritiker werden nun argumentieren, dass durch den Ersatz der Restlaufzeiten der deutschen Kernkraftwerke durch alte Kohle- und Gaskraftwerke zusätzliche klimaschädliche CO2-Emissionen verursacht werden“, heißt es in einer Expertise des Flensburger Wirtschaftswissenschaftlers Olav Hohmeyer. „Dies ist ein durchaus Ernst zu nehmender Einwand.“ Dennoch hält Hohmeyer die Nachteile für den Klimaschutz für beherrschbar. Der vorübergehende Anstieg des Treibhausgases CO2 lasse sich in wenigen Jahren überkompensieren, wenn konsequent auf einen raschen Ausbau von Ökostrom gesetzt werde. Er hält eine Komplettversorgung mit erneuerbaren Energien schon 2030 für möglich.
Der FDP-Fraktionsvorsitzende Rainer Brüderle warnt derweil vor steigenden Strompreisen infolge des Atomausstiegs. „Zum Nulltarif sind diese Schnellveränderungen nicht zu haben“, sagte Brüderle dem Sender Phoenix. Er forderte einen europaweiten Ausbau der Stromnetze, um Sonnen- und Windenergie dort zu nutzen, wo dies am effektivsten möglich sei. (abendblatt.de/dpa/dapd)