Mit dem Steuerpaket seien “schlicht misslungene, auch nicht vertretbare Regelungen hereingekommen“, denen er nicht zugestimmt hätte.
Berlin. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) hat das Erscheinungsbild der schwarz-gelben Koalition und deren Steuersenkungsvorhaben scharf kritisiert. Die Bundesregierung verweigert indes weiter konkrete Angaben, mit welchen Sparmaßnahmen sie künftig Steuersenkungen und Schuldenabbau finanzieren will. Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) verteidigte die Absicht, die Spar-Vorschläge erst nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen Anfang Mai 2010 vorzulegen. In Union und Wirtschaft wächst der Unmut über Steuersenkungen zulasten der öffentlichen Haushalte und der Sozialabgaben. Die FDP warnte die Union indes, die vereinbarten Steuersenkungen weiterhin infrage zu stellen.
Schäuble argumentierte in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ (F.A.S.), wer jetzt schon alles verrate, laufe Gefahr, dass später alles zerredet werde. „Aber wir müssen schon vor dieser Wahl damit beginnen, die Menschen davon zu überzeugen, dass der Schuldenabbau keine Bedrohung, sondern eine Verheißung ist.“ Er wollte sich nicht dazu äußern, ob der Bund zur Schuldenminderung soziale Abgaben erhöhen oder etwa eine Pkw-Maut einführen werde. Debattiert wird derzeit unter anderem über eine Anhebung des erst in den vergangenen Jahren drastisch gesenkten Beitrags zu Arbeitslosenversicherung von jetzt 2,8 auf bis zu 4,5 Prozent. Lammert sagte am Sonntag im Deutschlandfunk, CDU, CSU und FDP hätten schon kurz nach Regierungsantritt all ihre „Steckenpferde gegeneinander in Stellung“ gebracht. Besonders scharf ging er mit dem zum 1. Januar in Kraft tretenden Steuerpaket ins Gericht: „In dieses Gesetz sind neben manchen sinnvollen auch manche zweifelhafte und einige, wie ich finde, schlicht misslungene, auch nicht vertretbare Regelungen hereingekommen.“ Ein Beleg sei die Senkung der Mehrwertsteuer für Hoteliers von 19 auf 7 Prozent an. Dieser Regelung habe er nicht zugestimmt, sagte Lammert.
Der Parlamentarische Grünen-Geschäftsführer, Volker Beck, begrüßte die „klaren Worte“ Lammerts. „Wenn die Koalition ihren Klientelbedienungskurs fortsetzt, würde ich nicht darauf wetten, dass sie bis zum Ende der Wahlperiode durchhält.“ Das Wachstumbeschleunigungsgesetz sei das Gegenteil von Orientierung am Allgemeinwohl, sondern „Neuverschuldung ohne Zukunftsperspektive zugunsten einiger Sondergruppeninteressen“ wie Erben und Hoteliers. SPD-Chef Sigmar Gabriel sprach ebenfalls von Klientelpolitik und hielt der Bundesregierung in der „F.A.S.“ vor, die Sparpläne erst nach der NRW-Wahl vorzulegen, sei nichts anderes als die offene Ankündigung eines Wahlbetrugs. Baden-Württembergs scheidender Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) sagte dem Magazin „Focus“, eine große Steuerreform mit Steuersenkungen bis zu 24 Milliarden Euro sei unvorstellbar. Selbst bei gutem Wachstum von um die zwei Prozent
2010 und 2011 baue sich 2011 ein Sparpotenzial von 10 bis 15 Milliarden Euro auf. FDP-Generalsekretär Christian Lindner sagte dem „Tagesspiegel am Sonntag“ und der „Bild am Sonntag“, 24 Milliarden Euro Steuerentlastung seien realistisch. Das Vertrauen der Bürger in den Entlastungskurs von Schwarz-Gelb dürfe nicht gefährdet werden. Die Reform sei finanz- und wirtschaftspolitisch alternativlos. Sie erzeuge Wachstum und bringe so die Staatsfinanzen in Ordnung. CSU- Chef Horst Seehofer sagte dem „Focus“, die große Steuerreform komme „bombensicher“. Zum Sparen sagte der bayerische Ministerpräsident: „Es gibt Sparansätze, die nichts mit Sozialabbau zu tun haben.“ Manche „Standards in der Verwaltung“ könne man überdenken. Die Wirtschaftsverbände befürchten jedoch, dass der Staat sein Riesendefizit nicht so sehr durch Sparen, sondern durch höhere Sozialabgaben abtragen will, wovon sie selbst auch betroffen wären. Industrie, Handel und Handwerk warnten über Weihnachten vor einer Erhöhung des Arbeitslosenbeitrags auf mehr als drei Prozent. Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt sagte der Deutschen Presse-Agentur dpa: „Aus meiner Sicht sind die Sanierung der öffentlichen Finanzen und die Sicherung stabiler Sozialversicherungsbeiträge wichtiger als Steuersenkungen.“ Lohnzusatzkosten dürften „nicht steigen, damit wir international wettbewerbsfähig bleiben“. BDI-Präsident Hans-Peter Keitel kritisierte das Schielen auf den Wahltermin in NRW. Unions-Fraktionschef Volker Kauder (CDU) sagte der Berliner „B.Z. am Sonntag“, 2010 bleibe der Arbeitslosenversicherungsbeitrag stabil. DGB-Chef Michael Sommer kündigte in einem dpa-Gespräch Widerstand gegen Einschnitte ins Sozialsystem oder gegen höhere Sozialabgaben an.