Der schärfste Gegner von Regierungschef Putin soll nun ein Jahr früher aus der Haft entlassen werden – 2016 soll er auf freien Fuß kommen.
Moskau. Überraschender Weise wurde die Haftzeit für den im Gefängnis sitzenden Kremlkritiker und früheren Ölmanager Michail Chodorkowski (47) um ein Jahr reduziert. Er hat vor dem Moskauer Berufungsgericht somit einen kleinen Teilerfolg erzielt. Der Richter reduzierte seine Gesamtstrafe am Dienstag auf 13 Jahre Haft. Damit kommt der schärfste Gegner des russischen Regierungschefs Wladimir Putin im Oktober 2016 auf freien Fuß und nicht erst 2017. Chodorkowskis Anwälte sprachen nur von einer „kosmetischen Korrektur“. Sie wollen nun vor dem Europäischen Gerichtshof in Straßburg weiter um einen Freispruch kämpfen. Auch die Bundesregierung reagierte enttäuscht.
Nach dem neuen Richterspruch soll der einst reichste Mann Russlands 128 Millionen Tonnen weniger Öl als gedacht unterschlagen haben. Zwar bestätigte das Gericht das erste Urteil gegen den berühmtesten Häftling des Landes im Grundsatz. Dass der Tatvorwurf aber überraschend abgemildert wurde, sahen Beobachter als Hinweis dafür, dass das Vorgehen gegen Chodorkowski auch in der russischen Politik umstritten ist.
Der russische Präsident Dmitri Medwedew hatte unlängst gesagt, dass Chodorkowski in Freiheit keine Gefahr darstelle. Deshalb hatten zuletzt Experten auf ein milderes Urteil gehofft. Hoffnungen auf einen Freispruch galten aber als unbegründet. Im Dezember hatte die erste Instanz noch eine Gesamtstrafe von 14 Jahren festgelegt, die 2017 enden würde.
„Die fragwürdigen Umstände des Verfahrens werfen erneut ein negatives Schlaglicht auf die Bemühungen um mehr Rechtsstaatlichkeit in Russland“, teilte Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) mit. Unabhängige Juristen und Bürgerrechtler sprachen von einer „Schande“. Das Urteil sei politisch gesteuert.
Chodorkowski kritisierte das Urteil erneut als „absurd“. Er bezeichnete den Richter als „Verbrecher“. „Die Zerstörung des Rechts - das ist die Vernichtung der Zukunft Russlands. Das ist Verrat. Und es gibt kein Pardon für diesen Verrat“, sagte er. Die Verteidigung wirft den Richtern vor, auf politischen Druck zu handeln.
„Obwohl ich nicht auf einen Freispruch gehofft habe, bin ich von dem Urteil enttäuscht“, sagte die Menschenrechtlerin Ljudmila Alexejewa von der Moskauer Helsinki-Gruppe. Chodorkowskis Vater Boris verließ den Gerichtssaal unter Tränen.
„Wir wurden Zeugen eines weiteren schamlosen und ungesetzlichen Akts politischen Rufmords, der sich bereits über fast acht Jahre hinzieht“, sagte Chodorkowskis Anwalt Juri Schmidt. Es gehe der Justiz nicht um Gerechtigkeit, sondern um das Ziel, den Kremlgegner politisch kalt zu stellen.
In dem Berufungsverfahren räumte der Richter überraschend ein, dass sich der damalige Manager des inzwischen zerschlagenen Ölkonzerns Yukos weniger habe zu Schulden kommen lassen, als ihm zunächst vorgeworfen wurde. Chodorkowski soll nun „nur“ 90 Millionen Tonnen Öl unterschlagen haben. Damit reduzierte sich auch der Wert der unterschlagenen Ölmenge um 68 Milliarden Rubel (rund 1,7 Milliarden Euro).
Im Urteil der ersten Instanz war der Richter von einem Diebstahl von 218 Millionen Tonnen Öl ausgegangen, was der gesamten Yukos-Produktion von 1998 bis 2003 entspräche. Die Staatsanwaltschaft teilte mit, dass sie das Urteil im Wesentlichen bestätigt sehe. Zugleich wies die Behörde Spekulationen zurück, an einem dritten Verfahren gegen den Kremlkritiker zu arbeiten. Das sei definitiv der letzte Prozess, sagte Anklägerin Gjultschechra Ibragimowa.
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International zeigte sich enttäuscht. „Die Bemühungen des russischen Präsidenten Medwedew, mehr Rechtsstaatlichkeit in Russland zu schaffen, bleiben nach rund drei Viertel seiner Amtszeit offenbar weiterhin bloße Rhetorik“, teilte Amnesty-Experte Peter Franck mit.
In Berlin nannten die Grünen-Bundestagsabgeordneten Jürgen Trittin und Marieluise Beck das Urteil ein „verheerendes Signal für die dringend notwendige Modernisierung“ Russlands. „Ohne rechtsstaatliche Verhältnisse ist kein Investor in Russland sicher“, hieß es in einer Mitteilung der Politiker.
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Der Dokumentarfilm des Berliner Regisseurs Cyril Tuschi über den inhaftierten russischen Ölmagnaten Michail Chodorkowski ist der Gewinner des internationalen Dokumentarfilmpreises 2011. „Regisseur Cyril Tuschi hat sich durchgebissen“, urteilte die Jury laut Mitteilung. „Viele Jahre und viel Mut hat er investiert – und mit viel Akribie und Herzblut einen Dokumentarfilm geschaffen, der mit einer modernen Bildsprache die Licht- und Schattenseiten des früheren Oligarchen zeigt.“ Der Preis ist mit 10.000 Euro dotiert.
Tuschi geht in seinem Film der Frage nach, wie Chodorkowski vom einst mächtigsten Oligarchen zum Staatsfeind Nummer eins in Russland werden konnte. Fünf Jahre lang hat er an „Khodorkovsky“ (englischer Originaltitel) gearbeitet. Der Regisseur kündigte an, seine Dokumentation auch in Russland zeigen zu wollen.
In der Kategorie „Horizonte“ für Filme, die unter schwierigen politischen oder finanziellen Bedingungen entstanden sind, gewann „El Mocito“ von Marcela Said und Jean de Certau – ein Film über die chilenische Militärdiktatur. Der Preis in der Kategorie „Dok.deutsch“ ging an Dieter Schumanns Film „Wadans Welt“ über die veränderte Arbeitswelt in Zeiten der Globalisierung. Mit dem Förderpreis wurde Gereon Wetzels Film „El Bulli – Cooking in Progress“ über Ferran Adrià, den Erfinder der Molekularküche, ausgezeichnet.
Die Dokumentarfilm-Preise werden alljährlich in München im Rahmen des „Dok.fest“ verliehen, des größten deutschen Festivals für den abendfüllenden Dokumentarfilm. (dpa/abendblatt.de)