Moskau weist die Kritik an dem Schuldspruch Chodorkowskis scharf zurück. Das Urteil wird für Sylvester erwartet. Ab dem ersten Januar sind in Russland zehn Tage gesetzliche Feiertage.
Moskau. Die weltweite Kritik an dem Schuldspruch des inhaftierten Kremlkritiker Michail Chodorkowski ist groß. Doch das kümmert Moskau nicht weiter, stattdessen weist Moskau mit scharfen Worten die Kritik der westlichen Politiker zurück. Nach Angaben der Agentur Interfax sagte ein Sprecher des russischen Außenministeriums am Dienstag, "Versuche, Druck auf das Verfahren auszuüben, sind nicht akzeptabel“. Der Prozess sei Sache der russischen Justiz.
Das Gericht in Moskau fuhr unterdessen unter scharfen Sicherheitsvorkehrungen damit fort, die Begründung für das Urteil gegen Chodorkowski zu verlesen. Dabei kam es erneut vor dem Gerichtsgebäude zu Protesten von Regierungsgegnern. Wie die Agentur Interfax mitteilte, seien mindestens zwei Menschen festgenommen worden.
Wegen Unterschlagung und Geldwäsche hatte Richter Viktor Danilkin den früheren Chef des mittlerweile zerschlagenen Ölkonzerns Yukos, Michail Chodorkowski, und dessen mitangeklagten Ex- Geschäftspartner Platon Lebedew am Vortag schuldig gesprochen und damit begonnen, die tausende Seiten umfassende Urteilsbegründung vorzutragen.
Zur Verteidigung des Urteils sagte der Ministeriumssprecher: "Wir reden von schweren Anschuldigungen.“ Solche Taten würden in allen Ländern bestraft. Russland verwahre sich auch gegen Vorwürfe, seine Justiz arbeite selektiv.
Neben der USA hat die Bundesregierung und auch die Europäische Union das Urteil heftig kritisiert. Auch der zweite Prozess gegen den früheren Öl-Magnaten, der noch bis 2011 eine achtjährige Haftstrafe wegen Steuerhinterziehung absitzen muss, gilt wie der erste als politisch motiviert.
Nach Einschätzungen von Beobachtern werden die Richter das Strafmaß an Silvester verkünden. Daher behauptet die Verteidigung, dass die russische Führung den Schuldspruch in Ruhe aussitzen wolle., Denn die ersten zehn Tage des Jahres sind in Russland gesetzliche Feiertage, Zeitungen erscheinen nicht. (abendblatt.de/dpa)
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Russland
Michail Chodorkowski oder Putins "Staatsfeind Nr. 1"
Er scheint zu ahnen, dass er noch eine Reihe von Jahren hinter Gittern bleiben wird, womöglich sogar nie wieder in Freiheit kommt. "Wie jedem anderen fällt es mir schwer, im Gefängnis zu leben, und ich will hier nicht sterben", sagt Michail Chodorkowski, 47, der einst reichste Mann Russlands, in seinem Schlusswort vor dem Moskauer Bezirksgericht Chamowniki, um dann nicht ohne Pathos hinzufügen: "Aber wenn es nötig ist, werde ich nicht zögern. Mein Glaube ist mehr wert als mein Leben."
Wie immer das Urteil im zweiten Prozess gegen den früheren Chef des Ölkonzerns Yukos ausfällt - es wird in die Geschichte Russlands eingehen.
Heute beginnt die Urteilsverlesung, sie wird mehrere Tage dauern. Urteil und Strafmaß werden erst im Januar bekannt gegeben. Chodorkowskis Anwälte sagen, dass sofort klar sein wird, ob es einen Schuldspruch oder einen Freispruch geben wird.
Doch das ist eigentlich schon vorher klar. "Niemand glaubt, dass von einem Moskauer Gericht ein Freispruch im Yukos-Prozess zu erwarten wäre", sagte Chodorkowski selbst. Alle, die mit ihm fühlen, hoffen nur auf ein Wunder.
Außerdem fällte Wladimir Putin das Urteil bereits vor einigen Tagen. Das ganze Land hörte zu, als der Ministerpräsident sagte, Chodorkowskis Schuld sei vor Gericht bereits bewiesen. Putin verglich Chodorkowski mit dem amerikanischen Milliarden-Betrüger Bernie Madoff und warf Chodorkowski vor, auch in Morde verwickelt zu sein. Chodorkowski stand aber niemals unter Mordverdacht. Putin verglich Chodorkowski sogar mit Al Capone. Auch den hatte man wegen Steuerhinterziehung angeklagt, weil man ihm nichts anderes nachweisen konnte.
Diese Vergleiche sind aus der Luft gegriffen. Madoff baute eine Finanzpyramide, Chodorkowski war der Kopf eines Mineralölkonzerns. Und Al Capone war nicht der persönliche Feind des Präsidenten. Sein Eigentum ging nicht an jene über, die gemeinsam mit dem Präsidenten das Land beherrschten.
Der Yukos-Konzern wollte sich der Kontrolle durch den Kreml entziehen
Seit mehr als sieben Jahren sitzt Michail Chodorkowski im Gefängnis, aber bisher weiß keiner, warum genau Putin - damals Staatspräsident - ihn einsperren ließ. Es gibt unterschiedliche Theorien. Die erste: Chodorkowski sitzt, weil er einmal in Putins Anwesenheit dessen Freunden Korruption unterstellte. Putin schäumte vor Wut.
Die zweite Theorie: Putin erschrak, weil Chodorkowski zu ehrgeizige Pläne hatte - in der Wirtschaft ebenso wie in der Politik. Tatsächlich unterstützte er oppositionelle Parlamentsparteien. 2001 gründete er die Stiftung Otkrytaja Rossija ("Offenes Russland"), über die er zig Millionen Dollar in die Modernisierung der Bildung und in den Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen investierte. Otkrytaja Rossija wurde im März 2006 geschlossen.
Chodorkowski war in der Tat aktiver als die übrigen Oligarchen. "Er verstand, dass man sich verändern musste, um erfolgreich zu sein ", erinnert sich die Menschenrechtlerin Irina Jassina, Direktorin von Otkrytaja Rossija. Schon 1989, zwei Jahre vor dem offiziellen Ende der Sowjetunion, hatte der damals erst 36 Jahre alte studierte Chemiker und Volkwirt die erste Privatbank Russlands gegründet. Später führte Yukos, das Chodorkowski dank guter Beziehungen zur damaligen Regierung günstig übernommen hatte, als erster Konzern internationale Rechnungslegungsstandards ein. Die beiden Ölmagnaten Chodorkowski und Roman Abramowitsch beschlossen, ihre Aktiva zusammenzulegen: Durch eine Fusion ihrer Unternehmen Yukos und Sibneft sollte der weltweit viertgrößte Erdölkonzern entstehen. Chodorkowski verhandelte mit den großen internationalen Ölkonzernen über den Verkauf eines Aktienkontrollpakets des neuen Unternehmens. Einen Konzern dieser Größenordnung konnte der Staat nicht mehr völlig kontrollieren.
Daraus leitet sich eine dritte Theorie ab: Putin wollte den Oligarchen eine Lehre erteilen und ihnen zeigen, wer das Sagen hat. Nach der Jahrtausendwende begann in Russland eine neue Ära. Die Wirtschaft wurde liberalisiert, die Binnenproduktion stieg, es begann eine Erholungsphase nach der Währungskrise 1998. Die Wirtschaft zog an. Chodorkowski war der Erste, aber viele andere Großunternehmer machten sich ebenfalls Gedanken, wie sie der Kontrolle des Kremls entkommen konnten.
Wladimir Putin ist ein argwöhnischer Mensch. Er glaubt an Verschwörungen. Mehrmals entließ er urplötzlich seine engsten Berater, weil er glaubte, dass sie hinter seinem Rücken etwas vorhatten. Angeblich war er überzeugt, dass Chodorkowski ein Komplott schmiedete.
Dabei sollte Chodorkowski zunächst nicht ins Gefängnis kommen. Im Juli 2003 wurde zunächst sein Kompagnon Platon Lebedew verhaftet. Das war ein Wink an Chodorkowski, besser das Land zu verlassen. Er aber blieb. Am 25. Oktober 2003 wurde sein Flugzeug von Spezialeinheiten gestürmt. Seither sitzt er hinter Gittern. Die Hauptanklagepunkte des ersten Yukos-Falles waren Vorwürfe der Steuerhinterziehung, die rückwirkend für mehrere Jahre gegen den Ölkonzern erhoben wurden.
Es ging um Transferpreise für Öl, eine populäre Methode der Steuerminimierung, die sich in den 90er-Jahren alle russischen Ölkonzerne zunutze machten. Eine Offshore-Gesellschaft, die zum Konzern gehört, kauft das Öl des Hauptkonzerns quasi "direkt am Bohrloch" zu einem intern festgesetzten Preis; weiterverkauft wird zum Marktpreis. Der akkumulierte Gewinn unterliegt dem günstigeren Steuersatz der Offshore-Gesellschaft.
Den ersten Yukos-Prozess führte Putin persönlich. Er wusste über alle Details Bescheid. Das Verfahren zog seine Kreise: Es gab es Dutzende Strafanzeigen und laufend Festnahmen, viele Manager flohen ins Ausland. Die Zahl der Beschuldigten im Zusammenhang mit Yukos stieg auf über 70. So viele Präzedenzfälle hatte Russland seit Beginn der 80er-Jahre nicht erlebt.
Die Steuerbehörden trieben viele Unternehmen in den Ruin
Im Mai 2005 wurden Chodorkowski und Lebedew zu neun Jahren Haft verurteilt, dann wurde das Strafmaß auf acht Jahre herabgesetzt. Yukos war bankrott. Die größten Aktiva wurden für 9,3 Milliarden US-Dollar von Rosneft übernommen.
Die Unternehmen gewöhnten sich an die veränderten Spielregeln. "Damals zeigte man der Regierung, wie man mit der Wirtschaft arbeiten kann", erinnert sich der Unternehmer Jewgeni Tschitschwarkin, der ehemalige Miteigentümer des führenden Handyvertreibers Jewroset. Doch dann verfolgte ihn das Innenministerium - weil er sich weigerte, seine Einkünfte zu teilen. Er musste die Firma verkaufen und floh nach London. "Die Menschen fürchteten sich", sagt Tschitschwarkin, "Ich bekam auch Angst."
Es entstand ein neuer Begriff: Steuerterror. Die Steuerbehörde stellte Ansprüche in Rekordhöhe an die Unternehmen. Die Aktienkurse fielen, Kapital wurde abgezogen, große Unternehmen wurden vollständig vom Kreml abhängig. Selbst kleine Verträge schloss man auf höchster Ebene.
Zu den Errungenschaften der ersten beiden Jahre der Putin-Reformen gehörten rechtsstaatliche Neuerungen wie der Schutz vor willkürlicher Verhaftung und die Einführung von Schöffengerichten. Doch wurde schnell klar, dass die Justiz nach wie vor der Kontrolle des Staates unterliegt.
Die Parlamentswahlen im Dezember 2003 standen im Zeichen des Yukos-Prozesses. Die Liberalen verloren ihre Sitze im Parlament an die Nationalisten. Die Bevölkerung beobachtete mit Genugtuung, wie Putin mit den Oligarchen abrechnete. Sie forderte auch die Verhaftung Abramowitschs, der gerade zum Gouverneur von Tschukotka gewählt worden war.
"Die Entscheidung ist gefallen. Die Kreuzung, an der wir nach rechts oder nach links hätten abbiegen können, liegt hinter uns. Wir leben in einem anderen Land", so zog Andrej Illarionow die Bilanz des Jahres 2004. Der Wirtschaftsberater Putins verlor kurz darauf sein Amt. Chodorkowski und Lebedew wurden 2005 nach Sibirien verlegt, in ein Straflager in der Nähe von Tschita, unweit der chinesischen Grenze. Die Ölpreise stiegen weiter. Diese unerwartet hohen Einnahmen führten zum russischen Konsumboom der letzen fünf Jahre.
Zu dieser Zeit liefen bereits die Vorbereitungen zum zweiten Yukos-Prozess. Die Yukos-Tochterfirmen Fargoil und Ratibor wurden beschuldigt, Öl zu günstigen Preisen gekauft und den Erlös von mehr als 13 Milliarden US-Dollar außer Landes geschafft zu haben. Der Ratibor-Geschäftsführer Wladimir Malachowski erhielt zwölf Jahre Haft. Auf dieses Urteil wollte man sich im zweiten Chodorkowski-Prozess bereits berufen.
Der Fargoil-Geschäftsführer Antonio Valdez-Garcia floh ins Ausland. Im Sommer 2005 kehrte der Spanier nach Russland zurück, um die Ermittlungen zu unterstützen. Er stand in der Nähe von Moskau unter Hausarrest. Bereits damals deutete vieles darauf hin, dass die Aussagen für den zweiten Yukos-Prozess unter Misshandlungen zustande kamen. Innerhalb eines Jahres unternahm Valdez-Garcia einen weiteren Fluchtversuch und sprang aus dem Fenster. Er wurde mit einem Schädelhirntrauma, Beinfrakturen und ausgeschlagenen Zähnen ins Krankenhaus eingeliefert. Ganz plötzlich wurde aus dem Zeugen ein Angeklagter, trotzdem gelang ihm 2006 die Flucht.
Im Februar 2009 wurden Chodorkowski und Lebedew nach Moskau zurückverlegt. Man erhob wieder Anschuldigungen gegen sie. Sie sollen 218 Millionen Tonnen Öl und den Erlös aus dem Verkauf unterschlagen haben. Aber für diese Anschuldigungen wurden bereits die führenden Köpfe der Yukos-Töchter hinter Gitter gebracht. Tatsächlich geht es um genau dieselben Transferpreise, für die Chodorkowski und Lebedew bereits wegen Steuerhinterziehung verurteilt wurden. "Die alten Akten wurden neu gemischt und daraus ein neuer Fall gemacht", erklärte Chodorkowskis Anwalt Wadim Kljuwgant.
Im Zuge seiner Verteidigung bestand Chodorkowski darauf, dass es unmöglich sei, solche Mengen Öl zu unterschlagen, und dass sein Unternehmen in all diesen Jahren gearbeitet, Gewinne erzielt und Steuern bezahlt habe - und dass er dafür bereits verurteilt worden sei. Das erste Verfahren war offenbar politisch und wahltaktisch motiviert, insofern entbehrte es nicht einer inneren Logik. Das zweite ist in den Augen vieler absurdes Theater.
Außerdem ist das Gericht ganz und gar nicht auf ein neues Gesetz eingegangen, das auf Präsident Dmitri Medwedews Initiative verabschiedet wurde und das untersagt, dass Unternehmer während der Voruntersuchungen inhaftiert werden. Das zweite Yukos-Verfahren ist ein großes Problem für Medwedew, der sich der Modernisierung des Landes und dem Kampf gegen die Korruption verschrieben hat.
Chodorkowski hat zwar Unterstützer, aber denen fehlt der Einfluss
Viele Geschäftsleute und Staatsangestellte sprechen offen über ihr Mitgefühl mit Chodorkowski. Doch in all den Jahren hat sich keine Gruppe formiert, die aufsteht und sagt: "Es reicht! Schluss mit der Willkür!" Chodorkowski hat Unterstützer, aber es sind nicht viele, und die wenigen haben keinen Einfluss.
In Moskau zweifelt keiner daran, dass es zu einem Schuldspruch kommen wird, die Frage ist nur, wie hoch die Strafe sein wird. Und weitgehend einig ist man sich auch in der Einschätzung, dass der Prozess mit Rechtsstaatlichkeit wenig zu tun hat.
Chodorkowski ist ein politischer Häftling Putins. Denn dieser will sich, wenn nicht alles täuscht, 2012 wieder um die Präsidentschaft bewerben.