Einige Sexualstraftäter und Schwerverbrecher müssen jetzt freigelassen werden. Opfer-Organisationen und Polizei warnen vor den Folgen.
Karlsruhe. Die Sicherungsverwahrung verstößt in ihrer derzeitigen Form gegen das Grundgesetz. In einem Grundsatzurteil entschied das Bundesverfassungsgericht, dass sämtliche Normen mit den Freiheitsgrundrechten der Betroffenen nicht vereinbar und damit verfassungswidrig seien (Az.: 2 BvR 2333/08). Die Sicherungsverwahrung müsse sich deutlich von der Strafhaft unterscheiden. Das sei derzeit nicht der Fall. Das entsprechende Gesetz müsse daher reformiert werden. Das Gericht gab dem Gesetzgeber dafür bis Juni 2013 Zeit. Bis dahin bleiben die Vorschriften mit Einschränkungen weiter anwendbar.
„Kurz gesagt dürfen hochgefährliche Straftäter unter engen Voraussetzungen weiter verwahrt werden, die anderen müssen frei gelassen werden“, sagte Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle bei der Verkündung in Karlsruhe. „Die Vorschriften sind nicht für nichtig erklärt worden, da dies zur Folge gehabt hätte, dass alle in der Sicherungsverwahrung untergebrachten Personen bis zu einer Neuregelung zumindest vorübergehend freigelassen werden müssen“, sagte Voßkuhle.
Dies würde Gerichte, Verwaltung und Polizei jedoch vor kaum überwindbare Hindernisse stellen und den Schutzinteressen der Bevölkerung nicht hinreichend Rechnung tragen. Derzeit sitzen etwa 500 Schwerkriminelle in Sicherungsverwahrung.
Bis zur Neuregelung darf den Richtern zufolge die Sicherungsverwahrung nur noch verhängt werden, wenn die Gefahr besteht, dass der Betroffene nach der Freilassung schwere Gewalt- oder Sexualstraftaten begeht. Sogenannte Altfälle, die nach mehreren Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) sofort hätten freigelassen werden müssen, dürfen unter anderem nur noch dann verwahrt bleiben, wenn sie unter einer psychischen Störung leiden. Ansonsten müssen sie bis Ende des Jahres freigelassen werden.
Der Menschenrechtsgerichtshof hatte mehrfach entschieden, dass die Sicherungsverwahrung Deutschlands zum Teil gegen Menschenrechte verstößt. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) erklärte, nach dem Urteil müssten sich die Sicherheitsbehören darauf einstellen, in Kürze eine große Anzahl freigelassener gefährlicher Gewalttäter zu überwachen. „Um die Bevölkerung vor diesen Tätern zu schützen, wird die Polizei sehr viele Beamtinnen und Beamte einsetzen müssen“, erklärte der GdP-Vorsitzende Bernhard Witthaut. Dies dürfe kein Dauerzustand werden. Das Gericht habe deutlich gemacht, dass Therapie-Unterbringungseinrichtungen die einzige Alternative seien. Diese müssten nun schnellstmöglich geschaffen werden.
Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) sieht die jüngste Reform der Sicherungsverwahrung durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts bestätigt. Die Karlsruher Richter hätten die grundlegende Weichenstellung der am Jahresbeginn in Kraft getretenen Regelungen nicht infrage gestellt, erklärte sie. Jedoch seien Bund und Länder nun gefordert, dafür zu sorgen, dass sich Strafhaft und Sicherungsverwahrung stärker voneinander unterscheiden. Das Gericht habe vor allem angemahnt, dass die Sicherungsverwahrung mehr Therapieangebote für die Täter beinhalten müsse.
Der Grünen-Abgeordnete Volker Beck forderte die Bundesregierung auf, „endlich ihre Hausaufgaben zu machen“. Beck äußerte Respekt für die Entscheidung des Gerichts. Es ermahne den Gesetzgeber, auch beim Umgang mit gefährlichsten Straftätern „die Prinzipien des Rechtsstaats ohne jegliche Abstriche zu wahren“. Der Deutsche Anwaltverein (DAV) forderte den Gesetzgeber auf, ein schlüssiges Gesamtkonzept vorzulegen. Es müsse einen Abschied vom reinen Verwahrvollzug geben, sagte DAV-Präsident Wolfgang Ewer. Ein vernünftiger, resozialisierungsfreundlicher Vollzug könne die Anordnung von Sicherungsverwahrung entbehrlich machen.
Die Opferschutzorganisation „Weisser Ring“ hat gefordert, Kriminalitätsopfer über eine Freilassung von Tätern zu informieren. Derzeit würden Opfer nicht einbezogen, wenn über das vorzeitige Ende einer Sicherheitsverwahrung entschieden werde, sagte die Bundesvorsitzende der Organisation, Roswitha Müller-Piepenkötter, dem epd.. In der Regel gebe es auch keine Informationen über den Aufenthaltsort der Täter und etwaige Überwachungsmaßnahmen. Verbrechensopfer litten oft jahrelang unter der Angst, den Tätern erneut zu begegnen.
Wie Hamburg nach der Einrichtung besonderer Zellen für besonders schwere Straftäter vorgeht, ist derzeit noch unklar. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Sicherungsverwahrung muss die nordrhein-westfälische Justiz 50 Fälle unverzüglich überprüfen. Das kündigte NRW-Justizminister Thomas Kutschaty (SPD) an. Sollte dabei festgestellt werden, dass diese Straftäter nicht mehr hochgradig gefährlich seien, müssten sie entlassen werden. Äußerst gefährliche Verbrecher könnten aber in der Sicherungsverwahrung bleiben. In den NRW-Gefängnissen sitzen nach Angaben des Justizministeriums derzeit 130 Sicherungsverwahrte. 50 von ihnen sind vom Urteil der Verfassungsrichter betroffen, weil ihre Sicherungsverwahrung nachträglich entfristet oder nachträglich verhängt worden war.
In Schleswig-Holstein müssen unmittelbar sofort keine Straftäter entlassen werden. Das sagte Justizminister Emil Schmalfuß (parteilos) nach einer ersten Einschätzung. Derzeit sind im Norden drei Männer eingesperrt, für die die Maßnahme ursprünglich auf zehn Jahre begrenzt war, aber dann rückwirkend verlängert wurde. In nachträglicher Sicherungsverwahrung sitzt keiner.
Niedersachsen will keine neue Anstalt für Sicherungsverwahrte bauen. „Es gibt viele Dinge, die einen neuen Standort auf der grünen Wiese ungünstig erscheinen lassen“, sagte Justizminister Bernd Busemann (CDU). Sicherungsverwahrte sind bisher in den Gefängnissen in gesonderten Abteilungen untergebracht. Die Länder-Justizminister hatten aber auf Druck des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte eine Neuorganisation der Sicherungsverwahrung unter anderem mit baulicher Trennung zu Gefängnissen und größeren Zimmern angekündigt. Minister Busemann sagte, ein neuer Hochsicherheitsstandort für die etwa erwarteten 50 Insassen sei Anwohnern kaum vermittelbar und eine „extrem teure Angelegenheit“. (abendblatt.de/rtr/dapd/dpa)