Hamburg. Die BR-Symphoniker und ihr baldiger Chef stemmten einen konzertanten „Siegfried“ in der Elbphilharmonie. Nicht alles war verständlich.
Es geht also doch. Auch ohne Orchestergraben, ob nun offen wie im Rest der Opernwelt oder mystifizierend überdacht wie im baulich einzigartigen Bayreuther Festspielhaus. Eine Portion aus Wagners „Ring“ in den Großen Saal der Elbphilharmonie zu stemmen, stundenlang, im Stück, ist nichts für schwache Nerven und noch weniger für konditionell schwächelnde Stimmen.
Letztere gab es teilweise beim Flitterwochen-Gastspiel des Münchner BR-Symphonieorchesters unter Sir Simon Rattle: Ausgerechnet der Titelheld des „Siegfried“ war, über die Langstrecke der konzertanten Aufführung gehört, zugleich anstrengend und überangestrengt.
Simon O’Neill war in der geschmeidig, strahlend, leicht sein sollenden Höhe oft anzumerken, wie strapaziös diese Partie ist. Aber zu selten war klar, wovon genau er da eigentlich sang. Insbesondere, wenn der wall of sound des Orchesters vor ihm sich hoch auftürmte. Was er stückbedingt oft tat. Textverständlichkeit und Wagner – ein weites Feld, leider, immer wieder.
Sir Simon Rattles Wagner in der Elbphilharmonie: Obertitel waren hilfreich
Auch beim Mime von Peter Hoare, der rollendeutend eher flach blieb, aber als Ex-Schlagzeuger eigenhändig auch noch auf den Schwert-Amboss hämmern konnte, war in dieser Hinsicht noch einiges an Luft nach oben. Die Obertitel-Projektionen im Großen Saal der Elbphilharmonie erwiesen sich jedenfalls als gut angelegtes Geld. Sie bewahrten O’Neill aber nicht davor, im Finale ähnlich abgekämpft zu klingen wie die meisten Tristane, eine chronologisch nahegelegene Tenor-Zumutung weiter im Wagner-Multiversum, in deren Endrunde.
Die Brünnhilde von Anja Kampe war dagegen noch taufrisch, seit dem Plot-Ende der „Walküre“ ja gut ausgeschlafen für diesen ersten großen Einsatz; Kampes laserschwertscharfer Sopran überwältigte dort also für etwa anderthalb Hauptcharaktere.
Das galt auch, von seiner ersten Note an, für Michael Volle als Wanderer. Volle wird im Wotan-Fach immer besser und packender. Seine Stimme setzt offenbar keinerlei Jahresringe oder gar Verschleißspuren an, sondern reift immer weiter ins Makellose. Man kann diese „Ring“-Rollen nicht gleichzeitig laut, elegant, klar verständlich, durchdacht und scheinbar mühelos klangschön zugleich singen? So eindringlich, dass man ihm seinen Part auch ganz ohne Bühne und Götterchef-Speer abnimmt? Volle kann. Und wie er konnte. Das war Goldstandard, nicht weniger.
Sir Simon Rattle hält die Zügel in der Elbphilharmonie sehr kurz
Und schade eigentlich, dass Wagner in dieser Oper nicht mehr für Alberich hineinkomponiert hat. Denn der Bariton Georg Nigl erweiterte mit dieser Rolle sein Charakter-Spektrum ausdrucksgriffig und glasklar umrissen um eine faszinierend zwischen Böse und jetzt aber wirklich sehr Böse taumelnde Gestalt, deren Galligkeit und Tücke sofort in ihren Bann zog. Gerhild Rombergers Erda hätte man etwas mehr Charisma im Format gewünscht. Als Ersatz für die ursprünglich geplante Barbara Hannigan in der Mini-Rolle des Waldvogels zwitscherte Danae Kontora ganz reizend aus dem Hochgebirge der Saalränge auf die große Bühne hinab.
Dort saß ein Orchester, das sich unter Rattles Leitung im ersten Aufzug nicht immer vom sämigen Hang der Handlung zum Ausdiskutieren von Absichten zu lösen vermochte. Rattle hielt die Zügel sehr kurz. Doch je später der Abend, desto dynamischer und freier in der Gestaltung wurde das Instrumentalensemble.
- Visions-Festival: Herrlich schräge Klänge im Kleinen Saal
- Überwältigender Klangrausch für das ganz große Orchester
- Robbie Williams in Hamburg: Nimm das, Harry Styles!
Der gefürchtete Hornruf – für den Solo-Hornisten Carsten Duffin gar kein Problem, die Feinstaffelung des Musikflusses – sehr raffiniert, sehr klangfarbenschillernd, wenn auch zunächst etwas zu analytisch und auf Pathosferne bedacht. Über den dritten Aufzug hatte Rattle im BR gewitzelt, der sei „wie ein nordkoreanischer Atombombentest“. Er dirigierte ihn mit Spaß am saftigen Übertreiben und viel Drive im Rausch-Sog der Partitur.
Bis zum Schlussakkord gegen 23.15 Uhr, über fünf Stunden nach den ersten Tutti-Tönen, hatten sich die zunächst randvollen Reihen im Saal zwar etwas gelichtet. Diejenigen aber, die durchgehalten hatten, waren lautstark und sichtlich selig ergriffen. Und ziemlich erledigt.
Aufnahmen: Wagner „Rheingold“ BRSO, S. Rattle, M. Volle, A. Dasch u.a (BR Klassik, 2 CDs, ca. 28 Euro. „Die Walküre“, BRSO, S. Rattle, S.Skelton, J. Rutherford, I. Theorin u.a. (BR Klassik, 4 CDs, ca. 38 Euro). Georg Nigl „Vanitas“ Lieder von Beethoven, Schubert, Rihm (alpha, CD ca. 18 Euro)