Hamburg. Simon Rattle war zweimal zu Gast in der Elbphilharmonie. Ein Gespräch über berüchtigte Kollegen und einen Abend mit der Kanzlerin.

Was haben ein Lammbraten, Angela Merkel und der Todesstern aus „Star Wars“ mit dem Dirigenten Sir Simon Rattle zu tun? Auf den ersten Blick eher nichts. Doch wenn man die Gelegenheit zu einem Gespräch mit ihm hat, wird es schnell ebenso vom Ausgangsthema abschweifend wie amüsant. Zwischen seinen beiden Elbphilharmonie-Konzerten mit dem London Symphony Orchestra (LSO) fand sich eine Lücke im Terminkalender, um über sehr vieles zu sprechen: über Musik, über das Alter, den Brexit und die Päpste. Und – Rattle ist schließlich aus Liverpool und Fußball-Fan – über Jürgen Klopp.

Hamburger Abendblatt: Warum ist ein klassisches Konzert wichtiger als ein Abend zuhause mit Netflix und Chips?

Sir Simon Rattle: Eine Kunstform live zu erleben, das macht den Unterschied. Kino ist anders als Netflix, Theater unterscheidet sich von Fernsehen. Und Musik ist eines dieser Dinge, die idealerweise zwischenmenschlich in einem Raum passieren. Das ist ein unglaublich wichtiges Konzept.

Wie lang halten Sie es ohne Musik aus, sei es selbstdirigiert oder als Zuhörer in einem Konzert?

Rattle: Ein Leben ohne Musik, das kann ich mir nur sehr schwer vorstellen. Das letzte Mal, dass ich ganz ohne war, war die sechsmonatige Auszeit, in der ich in Oxford Literatur studiert habe. Ich wollte herausfinden, ob etwas anderes den Platz der Musik einnehmen würde. Natürlich kann es das, wenn es entsprechend gewichtig ist. Aber, mein Gott, wie toll war es, sich wieder in die Musik fallen zu lassen! Ich saß in einer Aufführung von Beethovens „Eroica“, so emotional, so sehr weinend, dass die Leute um mich herum schon still und leise wegrückten.

Seit Ihrem Abschied von den Berliner Philharmoniker gibt es eine Situation, die hat etwas von den zwei Päpsten, in diesem Fall Kirill Petrenko und Sie. Denn normalerweise verlässt man diesen Posten nicht lebend, sondern stirbt dort.

Rattle: Ich hatte einmal ein sehr nettes Interview zusammen mit Claudio Abbado, unser Gegenüber sagte das auch. Und Claudio Abbado – weil es ein Wunder war, dass er seine Krankheit damals überwunden hatte – lehnte sich zu mir rüber und sagte: Aber versucht hab‘ ich’s… Ein typischer Claudio-Moment. Ich glaube, ich habe mehr Spaß als Benedikt. Und ganz bestimmt mehr Spaß dabei, meinen Nachfolger zu beobachten. Kirill und ich sprechen immer wieder miteinander und lachen viel.

Und er beschwert sich nie darüber, dass Sie ihn nicht gewarnt haben, wie verrückt einige im Orchester seien und hätte er das vorher gewusst…?

Rattle: Nun ja... Jeder, der sich ein Orchester ansieht und nicht glaubt, dass es verrückt ist, hat den falschen Job.

Haben Sie es wegen der politischen Situation in Großbritannien und des Brexits bereut, den Posten beim London Symphony angetreten zu haben?

Rattle: Bereuen? Ganz und gar nicht. Aber das Orchester hat mich gefragt, ob ich zugesagt hätte, wenn ich gewusst hätte, dass es dazu kommt. Sehr schwere Frage. Es hätte mir zu denken gegeben, weil es die ohnehin schon schwierige Situation von Orchestern in UK noch weiter verkompliziert. Aber ich liebe dieses Orchester. Wir müssen da gemeinsam durch.

Was bedeutet das für die Pläne, für das LSO endlich einen tollen neuen Konzertsaal in London zu realisieren?

Rattle: Musiker sind von Haus aus nicht besonders geduldige Menschen. Wir alle wissen, dass Säle während ihrer Entstehungszeit Höhen und Tiefen haben. Diese Dinge brauchen ihre Zeit. Wir haben einen wunderbaren Entwurf, alles ist bereit, wir könnten morgen anfangen…

… jetzt fehlen nur noch ein paar Hundert Millionen Euro…?

Rattle: Nein, das fehlt nicht! Das Geld sollten wir zusammen bekommen können. Was fehlt, ist der Wille, alles Notwendige in Bewegung zu setzen. Ich würde das gern noch erleben, bevor ich in Rente gehe.

Sie sind ja erst 65.

Rattle: Herbert Blomstedt (ein 92 Jahre alter Dirigent, d. Red.) schrieb mir neulich: 65 ist das neue 30. Er war noch nie so jung wie jetzt… Aber jetzt hier zu sein, nach all den Problemen und zu sehen, dass der Saal nicht nur wunderbar ist, sondern dass er Hamburg verändert hat... Er ist jetzt das neue Zentrum, das Gesicht der Stadt. Und egal, wie viele Konzerte dort angeboten werden – es ist immer noch nicht genug.

Wie schaffen Sie es, tatsächlich auch einmal nicht an Musik zu denken?

Rattle: Oh, bitte, ich habe drei junge Kinder und zwei ältere, und in der letzten Woche bin ich Großvater eines Jungen geworden. Das hilft enorm. Und obwohl Musik so wundervoll und befreiend ist – man kann nicht ständig in diesem Kaninchenbau verschwinden.

Was halten Sie von der Dirigentin Mirga Grazinyte-Tyla, Ihrer Nach-Nachfolgerin beim City of Birmingham Symphony Orchestra, deren Karrierelinie gerade steil nach oben zeigt?

Rattle: Ich bin so stolz auf Birmingham! Und sie ist wirklich ein „Mensch“. Sie behandelt jeden mit Liebe und Humor. Dirigenten müssen nämlich nicht immer wie José Mourinho sein, sie können auch Jürgen Klopp sein.

Ist es nicht sonderbar, dass „Dirigentin“ immer noch ein Thema ist?

Rattle: Gottseidank hat diese Entwicklung in den letzten zehn Jahren einen Tipping Point erreicht. Es gibt so viele Talente! Es wurde höchste Zeit!

Einige Dirigenten sind dafür berüchtigt, nicht nett zu sein. Wie wichtig ist das, um den Job zu erledigen?

Rattle: In diesem Land erzählen mir viele Leute ständig, ich sei viel zu nett. Nicht immer ein Kompliment. Manchmal muss man tough sein. Damit bin ich wieder beim Fußballtrainer: Jürgen Klopp muss bei seinen Stars in Liverpool enorm viel Ego-Management betreiben. Aber er macht das mit enormer Großzügigkeit und Liebe. Die Zeit der Autokraten ist weitgehend vorbei.

Haben Sie eine Meinung zu der Debatte um Daniel Barenboims angeblich so harten Führungsstil in Berlin?

Rattle: Ich liebe ihn. Er ist außergewöhnlich, und, ja, er ist tough. Und ich glaube, es gibt niemanden im Orchester, der nicht total für das respektiert, was er für sie getan hat, für seine Hingabe.

Und wie stehen Sie zur Debatte um das Verhalten von Plácido Domingo?

Rattle: Das ist schwer zu beantworten. Ich habe von Plácido nie etwas anderes als überwältigende Großzügigkeit erlebt. Während wir hier sitzen, berät gerade die Jury über die Klage gegen Harvey Weinstein. Wir leben in einer Zeit enormer Veränderungen, so viel ist gerade im Fluss. Viele der alten Machtspiele sind nicht mehr akzeptabel, wir müssen neue Wege der Zusammenarbeit finden.

Direkt nach dem Auftritt fallen Künstler oft in ein Loch. Das, wofür sie leben, ist in genau dem Moment vorbei...

Rattle: Niemand kann so tun, als ob das ein normales Leben wäre. Überall sind verstärkte Gefühle. Wenn Beethovens Neunte fällig ist oder Wagners „Tristan“, dann hat man sonderbare Schlafrhythmen. Ich bin ein Junge aus Liverpool, also hilft da Alkohol… (lacht) Aber nachts um drei sitzt man dann da, hellwach, und diese Musik trümmert auf einen ein. Wir haben in einem Moment mit riesigen Gefühlen zu tun – und im nächsten wieder mit dem realen Leben.

Gibt es einen schöneren Platz auf der Welt, als vor 130 Menschen zu stehen, die spielen, was ich möchte?

Rattle: Bis zu „spielen, was ich möchte“ gebe ich Ihnen absolut recht. Es ist nicht immer so. Wir merken alle, wenn das tatsächlich komplett funktioniert. Dann spricht die Musik zu uns, und dann fühlt sich das seltsam an, als ob es nicht viel mit uns als Individuen zu tun hätte.

Sie sollen ein amtlicher Koch sein. Was ist Ihr bestes Rezept?

Rattle: Lamm, acht Stunden im Ofen gekocht, so dass das Lamm denkt, es wäre in der Sauna. Das habe ich für Angela Merkel und ihren Mann gekocht, als sie bei uns zum Essen waren. Mein 14-Jähriger war damals jünger. Er sagte: Ich kann ihnen meinen Todesstern zeigen, in „Star Wars“ gibt es auch einen Kanzler, das wird sie verstehen. Und als er ins Bett musste, sagte er: Diese Leute sind sehr nett. Die kannst Du wieder einladen. Das ist wohl die beste Kritik, die jemals jemand aus der Politik bekommen hat.

Playlist

  • Mahler Sinfonie Nr. 9., 1. Satz. Sir Simon Rattle, Berliner Philharmoniker
  • Joni Mitchell „Sometimes I’m Happy“
  • J.S. Bach 1. Brandenburgisches Konzert, 1. Satz, Giardino Armonico
  • Janacek „Das schlaue Füchslein“ Finale 3. Akt Dalibor Jedlicka, Sir Charles Mackerras, Wiener Philharmoniker
  • Mozart Serenade B-Dur KV 361 „Gran Partita“, 3. Satz, Berliner Philharmoniker
  • Haydn „Die Schöpfung“ „Vollendet ist das große Werk“, Nikolaus Harnoncourt Arnold Schönberg Chor, Wiener Philharmoniker
  • Schumann „Das Paradies und die Peri“ „Schlaf‘ nun und ruhe in Träumen voll Duft“ Barbara Bonney, John Eliot Gardiner, Monteverdi Chor, Orchestre Révolutionnaire et Romantique
  • Händel „Scherza infida“ aus „Ariodante“ Magdalena Kozena, Venice Baroque Orchestra