Hamburg. Das WDR Sinfonieorchester fesselt sein Publikum mit Werken von Gubaidulina und Widmann. Erst mit Verzögerung bricht der Applaus los.
Von Null auf Hundert in einer knappen Minute, das ist im Konzertsaal eine beachtliche Leistung. Natürlich geht es dabei weder um Pferdestärken und Hubraum noch um das simple Hochschieben eines Lautstärkereglers, sondern um den intelligenten Einsatz der Mittel. Und die beherrscht Sofia Gubaidulina, die große alte Dame der zeitgenössischen Musik, unfehlbar.
Das WDR Sinfonieorchester hat es beim Neue-Musik-Festival „Elbphilharmonie Visions“ unter der uneitlen, präzisen Leitung von David Robertson am Sonnabend vorgeführt.
Elbphilharmonie: Das Überwältigende ist nicht in Phonzahlen zu messen
Im Falle von Gubaidulinas „Der Reiter auf dem weißen Pferd“ aus dem Jahre 2002 geht das so: Ein ferner, dünner, scharfer Sphärenton (für die, die dem Zauber des Moments etwas Empirie entgegensetzen möchten: der kommt vom Akkordeon) umgibt den Sternenstaub, der von irgendwoher (nämlich vom Glockenspiel, links vorne auf der Bühne, bedient von einem der acht Schlagwerker) herabsinkt auf einen stockenden Triller der Orgel (gespielt von der Titularorganistin des Hauses, Iveta Apkalna).
Im nächsten Moment stürzen aus der Höhe schon die Streicher ab, glissando in den Schlund des knurrenden, fauchenden tiefen Blechs, und dann schichtet das ganze Orchester die Klänge übereinander, bis ein einziges Gleißen entsteht. Das Überwältigende daran ist nicht in Phonzahlen zu messen. Gubaidulina hat ein haarfeines Gespür für Klangfarben, sie mischt sie ab wie auf einer Palette, ohne dass das je gewollt wirken würde. Das ist hörbar der eigentliche Zweck der riesigen Orchesterbesetzung.
Stille nach Trommel-Geknatter lässt an Ukraine-Krieg denken
Der Werktitel spielt auf die apokalyptischen Reiter aus der Johannes-Offenbarung an. Gubaidulinas Erzählung geht weit über die Sprache hinaus, sie ergreift Herz und Sinne ohne Umweg über den Kopf. Umso konkreter wirken Momente wie die der drei großen Trommeln. Weit voneinander entfernt an der Bühnenrückwand, feuern sie ihre akustischen Gewehrsalven perfekt synchron ab.
Zwischen dem Geknatter herrscht erschütternde und erschütterte Stille. Wer dächte in diesem Moment nicht an die Schlachtfelder in der Ukraine? Niemand macht den Krieg an diesem Abend ausdrücklich zum Thema. Aber so gebannt wie das Publikum im ausverkauften Saal zuhört, braucht es für das kollektive Bewusstsein dieser schrecklichen Gegenwart keine Worte.
Elbphilharmonie: Ein Rausch der Vielfalt
Auch Jörg Widmann erzeugt in seinem Trompetenkonzert „Towards Paradise (Labyrinth VI)“, uraufgeführt 2021, einen wahren Rausch mit der Vielfalt der Klänge und Stimmungen. Dem Solisten Håkan Hardenberger hat der Komponist minuziös vorgegeben, wie er sich durchs Orchester zu bewegen hat, ja sogar die Körperhaltung – alles um der Klangwirkung willen, wie er im Bühnengespräch erzählt.
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Zu seinen Säulenheiligen gehören nämlich nicht nur Mozart und Schubert, sondern auch der Jazztrompeter Miles Davis. Und so grooven Hardenberger und das Orchester, verneigen sich in der Struktur der melodischen Motive vor der Musikgeschichte und bleiben doch ganz im Heute.
Die letzten Töne spielt Hardenberger hinter der Bühne. Danach herrscht schier endlose Stille, erst dann bricht der Applaus los. Schöner kann ein Publikum seine Dankbarkeit nicht ausdrücken.