Hamburg. Der Wiener Bariton wird in der Elbphilharmonie zu Gast sein. Ein Gespräch über Freiheit, Fanpost und die Arbeit für die Kunst.

Extreme Rollen liegen Georg Nigl. Kompromisse? Eher nicht, offenbar. Aus dem Wiener Sängerknaben ist ein Bariton geworden, der weltweit gefragt ist, wenn es um die ganz besonderen Rollen geht: Bergs Wozzeck, Rihms Jakob Lenz, Monteverdis Orfeo.

Im Februar ist Nigl in der Elbphilharmonie als Wagners Alberich in einem konzertanten „Siegfried“ mit Sir Simon Rattle zu erleben. Das Leitmotiv für unser Gespräch: Freiheit.

Georg Nigl: Ein großes Thema, ein Hornissennest! Gerade habe ich mit dem Schauspieler Nicholas Ofczarek darüber telefoniert, dass ich mir nicht sicher bin, ob wir verstehen, wie wir zurzeit mit den Schubert-Liedern umgehen. Weil wir gar keine Idee mehr vom Freiheitsgedanken im frühen 19. Jahrhundert haben. Unser Freiheitsempfinden heute hat eher damit zu tun, ob mein WLAN funktioniert oder nicht.

Ihr Vater war Schneider, Ihre Mutter Hausfrau. Und Sie haben denen irgendwann gesagt: Ich will frei sein, ich will Künstler werden. Wie kam das an?

Nigl: Warum bin ich Sänger geworden? Es gibt eine wunderbare Platte von den Wiener Sängerknaben aus den 50er-Jahren, die ist während meiner Kleinkinderzeit immer gespielt worden, da habe ich immer mitgesungen. Wir wohnten ganz in der Nähe des Palais der Sängerknaben, wenn ich mit Mutter quer durch den Augarten zum Supermarkt ging, hat mich deren Singen offenbar immer wieder sehr angesprochen. In unserem Haus hat eine alte jüdische Dame gelebt, die war mit der Familie Austerlitz aus Ungarn befreundet, der Sohn wurde als Fred Astaire ein Hollywood-Star. Und diese Dame kam am Wochenende immer zu uns zum Fernsehen, und da hat sie zu meiner Mutter gesagt: Frau Nigl, geben Sie den Georg zu den Sängerknaben.

Wie ging die Geschichte weiter?

Nigl: Gestern sprach ich mit einer jungen Tänzerin, die eine Krise hat, da habe ich ihr geraten: Du musst Genies finden. Dieses Glück hatte ich. Dass ich mit einigen Genies arbeiten durfte, darunter auch Nikolaus Harnoncourt, die Regisseurin Andrea Breth und meine Lehrerin Hilde Zadek.

Stimmt es, dass Sie als erster namentlich in Programmen erwähnter Wiener Sängerknabe Fanpost erhielten?

Nigl: Die haben mich bei der Post schon gekannt, ich habe Säcke voller Briefe bekommen, ich war der erste wirkliche Kinder-Superstar der Wiener Sängerkaben.

Was macht das mit dem Teenager-Ego?

Nigl: Ich hatte ein großes Glück: Schon damals hatte ich gewusst, dass es nicht um mich geht. Ich stamme aus einer großen Familie, vier Geschwister. Einmal kam ich nach Hause und erzählte, ich hab‘ da bei so einem Geburtstag gesungen, 50. Geburtstag, irgendein Fußballer, Pelé oder so… Ich bin, glaub‘ ich, kein bescheidener Mensch. Aber ich habe damals gewusst: Das hat eine begrenzte Zeit. Und ich habe gewusst: Da will ich wieder hin. Aber als Georg Nigl. Ich will ganz vorn in der Mitte stehen. Mit 20, 21 hab‘ ich schon gewusst, was ich wollte. Dass ich der wurde, der ich heute bin – das konnte ich nicht voraussehen. Ein typisch klassischer Opernsänger bin ich sicher nicht.

Ihre Spezialität: extreme Charaktere extrem gut darzustellen. Sie wirken auf der Bühne nicht, als ob Sie sich mit Ihren Ideen und Ansichten unterordnen wollen.

Nigl: Ein ganz wichtiger Satz für mein Leben kam von Harnoncourt: Das Schöne kann nur sein, wenn es auch das Hässliche gibt. Und es gibt auch Pilatus‘ Frage: Was ist Wahrheit? Ich möchte nicht Menschen belehren, wenn ich auf der Bühne bin. Aber ich möchte zumindest den jeweiligen Charakter nicht eindimensional darstellen. Das Operntheater war mir oft zu schablonenhaft.

Wie weit lässt sich das, wenn Sie auf der Bühne sind, mit dem Thema künstlerische Freiheit vereinbaren? Wie frei fühlen Sie sich da?

Nigl: Ich war mit der Frage konfrontiert: Werde ich Schauspieler oder Sänger? Ein Schauspieler muss seinen Text, seine Partitur in Zusammenarbeit mit den anderen erst erfinden. Bei uns sind Tonhöhe, Lautstärke und so weiter vorgeschrieben und wir müssen in dieser Strenge die Freiheit finden. Das hat mich mehr interessiert, deswegen bin ich Sänger geworden. Dabei werde ich oft mit vielen Wünschen konfrontiert: von der Regisseurin, vom Komponisten, von der Dirigentin, auch noch vom Intendanten. Ganz viele, die mitreden. Aber machen muss ja ich. Da muss man Standhaftigkeit haben.

Ist es besonders schön, wenn man mit dem jeweiligen Komponisten sprechen kann – oder besonders schlimm, weil man mit ihm sprechen muss?

Nigl: Überhaupt nicht, das ist das Großartigste, was einem passieren kann. Durch das Leben mit Komponisten – Wolfgang Rihm und Pascal Dusapin sind wirklich meine Freunde – habe ich gelernt: Das sind Menschen, nicht irgendwelche Genies. Aus Fleisch und Blut, mit Überlegungen, mit Gedanken und ganz großartigen Ideen.

Klingt so, als ob Sie sich hin und wieder gern die Freiheit nehmen, Korrektur-Anmerkungen zu äußern.

Nigl: Mit lebenden Komponisten kann man das sehr leicht machen. Gerade jetzt hatte ich eine große Diskussion wegen Monteverdis Orfeo. Wahrscheinlich bin ich der Sänger, der diese Rolle in den größten Opernhäusern unserer Zeit gesungen hat – bin aber immer mit dem Vorwurf konfrontiert, das sei nicht im Sinne Monteverdis, viel zu große Räume und und… Natürlich weiß ich, dass das nicht Mantua ist und dass das Publikum 1608 noch nicht in Sitzreihen saß. Aber in einem Raum mit 2200 Plätzen kann ich nicht singen, als wäre ich in einem kleinen Zimmer. Was ist also jetzt „falsch“ in der Kunst? Sollen wir Monteverdi wirklich nur in Räumen wie damals in Mantua bringen – oder ist das ein Stück, für das wir den Spagat machen und mit ihm in ein großes Haus gehen, damit viele Menschen es miterleben?

Wer auf die Bühne geht, kommt irgendwann wieder runter. Auf der Bühne frei zu sein, muss so ungefähr das tollste Gefühl überhaupt sein. Und dann ist es vorbei. Wie schwer finden Sie wieder zurück, zum Nigl Georg aus Wien, der seine Steuererklärung abgeben muss?

Nigl: Das ist eine sehr intime, sehr interessante Frage. Im Hintergrund hören Sie vielleicht gerade meine kleine Tochter. Das ist mein Leben, ohne könnte ich das andere gar nicht machen und würde womöglich irgendwann vor die Hunde gehen. Meine Studenten habe ich als erstes immer gefragt: Warum wollen Sie das machen? Es kristallisierte sich heraus: Weil ich es liebe. So. Das ist ein sehr wichtiger Ansatz. Das war mein Antrieb. Aber man muss sehr wohl zwischen der privaten und der in der Öffentlichkeit stehenden Person. Wenn man das nicht lernt und das Private auf die Bühne bringt, ist man relativ schnell am Ende. Mir hat es nicht gereicht, nur Stimme zu sein. Wenn man nur in dieser Scheinwelt lebt, kann man sehr schnell den Boden verlieren.

Haben Sie ein Beispiel parat?

Nigl: Einmal, nach einem „Wozzeck“ in München, Riesenerfolg, hat mir überhaupt nicht gefallen, was ich gemacht hatte.

Applaus hatte es trotzdem gegeben.

Nigl: Ja, und das ist dann eine Krise. Da sitzt man und denkt sich: Wie passt das zusammen? Andrea Breth hat mir glücklicherweise ein Buch geliehen, die Autobiografie vom Schauspieler und Regisseur Stanislawski, der darin schrieb, er habe einmal auf der Bühne gestanden und das sei ihm, Entschuldigung: am Arsch vorbeigegangen. Nichts gespürt. Als ich das las, bin ich quasi aus der Couch hochgeschossen. Seitdem arbeite ich auf ganz andere Art und Weise. Alles am Text wird befragt, das brauche ich auch, als Rüstzeug.

Brauchen Sie dann auch Regie-Anweisungen, die Ihnen die Freiheit geben, Dinge tun zu sollen?

Nigl: Es gibt die große Diskussion über den Umgang mit Regie-Stilen. Bei mir ist sofort Alarm, wenn ich frage, warum ich etwas tun soll, und ich bekomme darauf keine Antwort. Dieses Recht habe ich und das verteidige ich. Wenn mein Argument das Stärkere ist, kann es heikel werden. Mit Abflug drohen gibt’s bei mir aber nicht. Wenn man geht, dann muss man auch wirklich gehen. Ich bereite mich sehr genau auf meine Rollen vor und gehe auch zu Bauproben, zu den Präsentationen fürs Haus, viele Monate vor der Produktion. Da werden Sie den Georg Nigl immer finden. Ich will sehen, was die sich ausgedacht haben, damit ich nicht auf die erste Probe komme und gesagt bekomme: Wir machen das so und Papageno rennt auf einmal in einer Cola-Dose herum. Kann man alles machen, aber ich möchte wenigstens vorher wissen, was auf mich zukommt und darüber nachdenken, wie ich damit umgehen kann. Mir wird oft gesagt, sie hätten Angst vor mir. Aber dann gibt es einen Diskurs. Ich signalisiere immer: Ich bin bereit, alles zu tun, was ihr wollt. Aber ich muss es verstehen.

Also wird man Sie wohl nie in einer Inszenierung erwischen, in der Sie lediglich ein Kreuz auf dem Boden zum Drauflossingen bekommen.

Nigl: Das habe ich schon gemacht, würde ich aber nicht mehr tun.

Sie haben sich nie vertraglich an ein Haus-Ensemble gebunden.

Nigl: Das ist eine sehr heikle Frage. Aber in welches Ensemble hätte ich denn gehen sollen? Ich habe sehr wohl gesucht, aber ganz wenige gefunden, die mich interessiert hätten. Anfang der Nullerjahre wäre ich sehr gern an die Komische Oper Berlin gegangen, doch das hat sich nicht ergeben. Warum habe ich mit der Breth so viel zusammengearbeitet? Na, weil man sich kennt, und anfängt zu verstehen, was der andere will. Das hat einen großen Vorteil.

Dann sind wir jetzt nah bei Brahms‘ Motto „Frei, aber einsam“? Sie als der freie Radikale, mal hier, mal dort? Vielleicht ja auch das Einzige, was für Sie funktioniert?

Nigl: Wenn man frei ist, glauben alle gleich, man wäre der Star, der das nicht mehr braucht. Sie können sicher sein: Wenn ich in einem Ensemble wäre und merken würde, dass etwas nicht der Arbeit dient, könnte es ungemütlich werden. Kürzlich, bei einem Mozart an einem großen Haus, fiel mir auf, dass bei den Proben alle immer nur am Handy sind. Was macht’s ihr da? Wir haben alle unser Leben darauf ausgerichtet, hier Mozart zu singen, und dann sind wir alle am Handy? Da werde ich irgendwann dysfunktional. Theater ist ein hochsensibler Ort und die Voraussetzungen, die wir zurzeit schaffen, sind nicht immer geeignet, das Beste aus uns herauszuholen. Deswegen entziehe ich mich manchmal dem Betrieb. Weil der manchmal den Anschein hat, als ginge es vor allem nur darum, dass der Vorhang aufgeht und fällt.

Beim Salzburger „Jakob Lenz“ kam es mir vor, als seien Sie von Anfang mit 130 Prozent am Start gewesen. Selbst Ihnen wird aber doch auch mal ein Abend unterlaufen, der über eine 3+ nicht hinauskommt.

Nigl: Eine ganz witzige Geschichte dazu: Meine Lehrerin Hilde Zadek hat gesagt: Du wirst dich noch wundern. An Abenden, bei denen du dich richtig schlecht fandst, werden die Leute zu dir kommen und dich loben. Und an Abenden, bei denen du meinst, du hättest Atlas den Erdball von den Schultern genommen und durchs Weltall geschleudert, werden sie fragen, was heut mit dir los war. Das ist wirklich so! Bei dem „Lenz“-Abend war ich weit von 130 Prozent entfernt, sondern sogar ein bisschen müde, danach bin ich krank geworden. Das viel Bessere war die Generalprobe. Aaber: Es geht nicht darum, dass ich da oben so abgehe. Es geht darum, dass ich Sie berühre. Ich bin der Projektor und rege hoffentlich in Ihnen etwas an. Dafür muss vorher ganz, ganz viel Arbeit passieren.

Wie für den Alberich demnächst.

Nigl: In Hamburg singe ich den zum dritten Mal. Jetzt habe ich viel darüber gelesen, auch über Wagner. Und Alberich wird mir jetzt gerade extrem nah, sympathisch. Ich liebe den! Vor zwei Tagen habe ich das Simon Rattle geschrieben und zurück kam: Großartig für mich und für Wagner, aber für den Alltag ein bisschen beängstigend. Als Dusapin für mich einen Macbeth geschrieben hat, der fünfte Akt, das Leben sei wie das Theater – ich saß nachts weinend zuhause, weil ich so berührt war und dankbar, dass ich das erleben darf. Und jedes Mal, wenn ich als Wozzeck Evelyn Herlitzius als Marie umgebracht, hatte sie Angst vor mir, sagte sie. Das ist gut und richtig, hab‘ ich geantwortet, der ist ein Soldat, der weiß, wie man tötet.

Bereuen Sie es, dass Sie Richtung Sänger abgebogen sind und nicht zur Schauspielerei?

Nigl: Beim Schauspieler kann man höchstens beneiden, dass es die Freiheit gibt, in den Film auszubrechen. Diese zwei Möglichkeiten habe ich als Sänger nicht. Und noch mal zum Thema Freiheit: Mich treibt gerade der Freiheitsgedanke um, der während der Biedermeierzeit in Wien geherrscht hat. Beim Schubert ist auch sehr viel Subversion drin. Die erkennen Sie nur nicht mehr. Das war eine arge Zeit. Ein Künstler, der sich nicht mit Freiheit und Freiheit in der Kunst auseinandersetzt – da sind wir bei der Blaupause.

Konzert: 8.2., 18 Uhr, Elbphilharmonie, Gr. Saal. Wagner „Siegfried” (konzertant). Sir Simon Rattle (Dirigent), BRSO, u.a. mit Michael Volle, Anja Kampe, Barbara Hannigan. CD: „Vanitas“ Lieder von Schubert, Beethoven, Rihm (alpha, CD ca. 16 Euro)