Hamburg. Die „Opening Night“ des NDR Elbphilharmonie Orchesters mit Dirigent Alan Gilbert und Geiger Joshua Bell.
Zum Saisonbeginn darf das Angebot gern symbolisch vielsagend wirken. An diese bewährten Dramaturgie-Regel hielt sich das NDR Elbphilharmonie Orchester auch in diesem Herbst. Im letzten September, terminbedingt auch als Kontrapunkt und Gegenstück zur Spätphase der Corona-Krise lesbar, hatte Alan Gilbert Mahlers „Auferstehungssinfonie“ in der „Opening Night“ dirigiert.
Nun, mit anderen gesellschaftlichen Krisensituationen konfrontiert, fügten sich drei Programmblöcke in der Elbphilharmonie zu einem Ganzen, das hören ließ, wie unberechenbar und wie sehr im Fluss die Gegenwart auch musikalisch sein kann.
Die Idee, Henri Dutilleux‘ Orchester-Klangmasse „Métaboles“ mit Strawinskys „Sacre du printemps” zu kombinieren, war clever, denn beide Stücke bebildern mit präzise ausgearbeiteter Detailschärfe organisch wucherndes Chaos.
Musik, die trotz ihres inneren „Bauplans“ in alle Richtungen passieren und animalisch ausfransen kann, als hätte sie ein gewissenloses Eigenleben, entfesselt und befreit von der Eindeutigkeit ihrer Notenlinien. Sich fallen lassen, die Kontrolle aufgeben sollen und sie dennoch behalten müssen – kein einfacher Spagat.
Elbphilharmonie: Gilbert ließ Strawinskys „Sacre“ nicht so ganz von der Kette
Gilberts handwerkliche Stärke als kameradschaftlich wirkender Orchester-Pädagoge stand dem Dilemma dieser Aufgabe beim Strawinsky letztlich im Weg. In Dutilleux‘ ausufernd phantastischer Studie war Gilberts Präzisions-Gestaltungswille noch ein Vorteil. Als läge die üppige Orchesterbesetzung unter einem riesigen Mikroskop, präparierte Gilbert aufmerksam das Kommen und Gehen von musikalischen Ereignissen heraus. Brillant, wie trennscharf er diese Musik hinterfragte und als Studiensubjekt zeigte.
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Strawinskys „Sacre“, randvoll mit wilden Taktwechseln und Akzent-Durcheinander, hatte das Londoner Aurora Orchestra erst vor wenigen Tagen im Großen Saal komplett ohne Noten gespielt, eine irrwitzige Leistung. Aber womöglich auch eine mustergültige Herangehensweise, so auf alle Sicherungen zu verzichten und freihändig am Abgrund entlangzurasen. Gilbert dagegen ließ Strawinskys Urviecher nicht so ganz von der Kette, sondern achtete immer noch darauf, dass diese Musik ihre Taktstriche und Strukturen beibehielt. Das Chaos wurde nicht gezeigt, sondern – auf spieltechnisch hohem Niveau – verwaltet. Beeindruckend, durchaus, aber überwältigend und buchstäblich umwerfend, das noch nicht.
Elbphilharmonie: Joshua Bell stellte seine Klasse virtuos lässig unter Beweis
Scharnier zwischen den Klassikern waren die fünf „Elements“-Vertonungen, die der Geiger Joshua Bell bei fünf US-amerikanischen Komponistinnen und Komponisten in Auftrag gegeben hatte – Erde, Wasser, Feuer, Luft und als Anleihe bei Aristoteles auch die Sphäre. Bell wird in dieser Saison als NDR-Residenzkünstler noch öfter zu hören sein.
Seine Virtuosen-Fertigkeiten – spielerische Lässigkeit, energiegeladen und gekonnt bis in allerhöchste Höhen – konnte er in dieser Substanzen-Show prächtig und mühelos funkelnd ausbreiten. Diese fünf Stücke hätte dafür als Gebrauchsmuster nicht unbedingt gebraucht, denn sie waren, bei allen beabsichtigten Unterschieden im Material, eher dekorativ harmlos und erst recht im Zusammenspiel mit den sie einrahmenden Schlüsselwerken leichtgewichtig.
Das Konzert wird am heutigen Sonnabend um 18 Uhr im Großen Saal der Elbphilharmonie wiederholt. Evtl. Restkarten. Online als Video-Mitschnitt in der Mediathek der Elbphilharmonie.