Hamburg. Spielzeit-Eröffnung des NDR-Orchesters. Chefdirigent Gilbert hatte gut damit zu tun, sein Orchester in der Spur zu halten.

Es gibt wenig Hübscheres als eine der vielen missmutigen Bewertungen dieses Komponisten durch Adorno, um sich auf das einordnende Nachdenken über eine Aufführung einer Mahler-Sinfonie einzustimmen: „Nach der Wagnerischen ist die Mahlersche die zweite Kapellmeistermusik höchsten Ranges; eine, die sich selbst vorträgt.“ Na, danke. Doch andererseits: Es könnte auch etwas dran sein an dieser Anklage-These, die Ausführende einschüchtern kann.

Elbphilharmonie: Zweite von Mahler zum Sasionauftakt des NDR-Orchesters

Als Auftakt seiner neuen Spielzeit hat NDR-Chefdirigent Alan Gilbert demonstrativ die Zweite von Mahler auf das erste Konzertprogramm der Saison 2022/23 gesetzt. Wir sind wieder da, sollte das vehement signalisieren, trotz aller akuten und chronisch sich wiederholenden Krisen der Gegenwart, und sicher auch: Wir sind ganz eindeutig wer, denn diese „Auferstehungssinfonie“ verlangt selbst in Mahler-Dimensionen gemessen nach dem ganz großen Besteck: Riesen-Besetzung, fünf Sätze, um die 90 Minuten, zwei Solistinnen, üppiger Chor, immer wieder Fernorchester-Bläser aus dem Off, Orgeldröhnen und Glocken.

Kann nicht jeder bieten (andererseits, was für ein elbphilharmonischer Luxus: Erst im Februar gastierten die Bamberger Symphoniker mit eben diesem Brocken dort). Es könnte also mächtig spektakelt werden, nicht nur, aber auch um des Spektakelns willen.

Dieser Verführung, die von Adorno gemaßregelten akustischen Schauwerte allzu leichtfertig und unbeaufsichtigt von der Kette zu lassen, hat sich Gilbert im ersten der zwei Aufführungs-Durchgänge widersetzt. Das war klug, aber hin und wieder auch – siehe Adornos Dialektik-Fußangel – zu wenig, um die Widersprüche und Fallhöhen dieser Musik in ihrer ganzen existenziellen Spannbreite abzubilden und sich dadurch anzueignen. Was war noch das zu spielende Noten-Material, und was schon das, was der fordernd formende, auskostende Dirigent daraus herausholte?

Elbphilharmonie: Gilbert hatte gut damit zu tun, sein Orchester in der Spur zu halten

Am Freitag, in der voll besetzten, final natürlich schwer begeisterten Elbphilharmonie-Arena, blieben diese Fragen eher unbeantwortet. Gilbert rang mit dieser Musik um eine geklärte, vielschichtig eindeutige Haltung zu ihr, und er hatte gut damit zu tun, sein Orchester dabei trotz der Stress-Abschnitte mit den brachialen Stimmungsabbrüchen in der Spur zu halten. Das höhere Blech musste durchaus hart arbeiten, um trotz der Anforderungen noch angemessen strahlend zu wirken.

Die dunkleren Strecken der ersten Hälfte gelangen so schroff und episodisch sarkastisch, wie es sich gehört; die Idyllen täuschten Harmlosigkeit vor, es ländlerte hin und wieder anmutig und blauäugig, bis der „Urlicht“-Satz mit der bewegend eindrucksvollen Sarah Connolly auf die letzten großen Themen im Finale vorzubereiten begann.

Beeindruckend, wie die beiden Rundfunkchöre aus Hamburg und Berlin das Format Sinfonie ins Hymnische öffneten. Wie sich Sopranistin Christina Nilsson verkündungsengelsgleich über diesen Chorsatz erhob und alles sich auf das „Auferstehen!“ und das ekstatische Zuversichts-Pathos konzentrierte, mit der Mahler sich und den Rest seiner Vorstellungs-Welt vom irdischen Plackern ins Himmlische jubilierte.