Hamburg. Das Philharmonische Staatsorchester Hamburg mit Kent Nagano erlebte in der Carnegie Hall ein Debüt mit Hindernissen.
„Großflächig ehrgeizig“ sei dieses Projekt gewesen, wertete die „New York Times“ gleich im dritten Satz über den vergangenen Sonnabend in der Carnegie Hall. Und es stimmt ja durchaus: Seit 1967 hatte es das Philharmonische Staatsorchester Hamburg nicht mehr nach New York geschafft.
Damals, in der legendären Ära von Rolf Liebermann, war es ein Trip in der Zweitrolle als Staatsopern-Orchester gewesen. Noch nie in seiner fast 200-jährigen Geschichte hatte dieser Klangkörper die Bühne des jetzigen Isaac Stern Auditorium betreten und – wahrscheinlich nicht gänzlich lampenfieberfrei – auf dessen knapp 2800 Sitzplätze geblickt.
Carnegie Hall: Philharmoniker Hamburg und Kent Nagano leisten personellen Kraftakt
Jetzt aber sollte es sein und entsprechend Schau machen, mit einem auch personalintensiven Kraftakt: Rund 100 Orchestermitglieder, mehrere Chöre und der Cellist Jan Vogler als Solist stapelten sich auf der Spielfläche. „On a Clear Day“, ein zwölfsätziges Breitwand-Opus des US-Amerikaners Sean Shepherd im Reisegepäck, geschrieben auf Texte der Hamburger Autorin Ulla Hahn, das dort uraufgeführt werden sollte.
Das alles im gut besuchten Saal (das Interesse am Box Office zog kurz vor Beginn deutlich an, hieß es), dirigiert von Generalmusikdirektor Kent Nagano. Alles in allem: Man könnte es sich auch handlicher gemacht haben. Erst recht, weil die Tournee-Logistik wasserdicht und stressärmer geplant war, als sie real passierte.
„Es ist ein Wunder, dass wir hier alle zusammengekommen sind“ freute sich die philharmonische Gast-Autorin Ulla Hahn vor Ort. „Der Glaube an ein Wunder ist der einzige Weg, dass ein Wunder passiert. Wir haben allezeit diesen Glauben gehabt, trotz mancher Herausforderungen, und es hat geklappt. Vielleicht das größte Glück war für mich, die Kinder und Jugendlichen zu hören, die meine Verse singen.“ Jene Texte, über die Shepherd berichtete, sie hätten „inspiriert und herausgefordert“.
Einige Konzerte mit anderem Programm in Süddeutschland vor dem Flug ab Frankfurt über den Atlantik waren planmäßig gelaufen, der Rest der Besetzung sollte danach aus Hamburg über London anreisen. Happy End dieser Plan-Etappe: Treffen in Midtown Manhattan.
Ein Personalstreik am Hamburger Flughafen machte diese ohnehin schon komplizierte Planung allerdings pünktlich zum Reisetag noch komplizierter. Aber: kein Künstlerpech, sondern Orchester-Glück. Alle aus allen zuständigen Himmelsrichtungen kamen rechtzeitig im Hotel an der 6th Avenue an, gerade mal zwei Blocks von der Carnegie Hall entfernt.
Carnegie Hall: Philharmoniker waren nicht zum Spaß in New York
Um den leicht staatstragenden Charakter dieser Gastspiel-Reise zu betonen, begann der erste philharmonische Arbeitstag im Big Apple mit einem Pressegespräch im deutschen Generalkonsulat. Im Anschluss folgte kein episches Touristenprogramm und kein Spaziergang im nahe gelegenen Central Park, sondern eine Vierstundenprobe im weniger glamourösen DiMenna Center. Dienst ist Dienst, Jetlag hin oder her, man war schließlich nicht zum Spaß dort.
- Konzert-Kritik: Ein Mittagsschlaf vor der „Bauernhochzeit“
- Staatsoper: Omer Meir Wellber – der Mann, der auf Kent Nagano folgt
- Elbphilharmonie: Kent Nagano bringt die Musik zum Tänzeln
Naganos O-Ton dazu: „Während ihrer langen Geschichte war, ist und bleibt die Carnegie Hall ein wichtiger Treffpunkt zwischen großen Musiktalenten und dem Publikum. Es ist jedes Mal ein großes Privileg, wenn man hier auftreten darf. Dieses ,Hamburg‘-Projekt richtet uns auf die Zukunft aus, indem es relevante Fragen nach dem Schicksal, der Zeit und unserer Beziehung zur Erde stellt, aber auch nach unseren jugendlichen Stimmen der Zukunft. Indem es diesen Fragen nachgeht, bietet ,On a Clear Day‘ Hoffnung und Zuversicht.“
Carnegie Hall: Philharmoniker-Gastspiel mit fünf Jahren Vorbereitungszeit
Jan Vogler, im Nebenberuf Intendant der Dresdner Musikfestspiele, bei denen Shepherds Werk Anfang Mai ebenfalls gespielt wird, sekundierte: „Wir sind sehr empfänglich für so große Ideen und Visionen wie dieses fantastische transatlantische Projekt! Nach fast fünf Jahren Vorbereitungszeit war es nun so weit.“
Auch der Sonnabendvormittag ging für weitere drei Stunden Probe drauf, diesmal am Ort des Geschehens, um sich mit der für alle neuen Akustik im fünfstöckigen Stern Auditorium anzufreunden. 19.30 Uhr: Showtime! Über das Klassiker-Mitbringsel aus dessen Geburtsstadt Hamburg, Johannes Brahms‘ „Schicksalslied“, schrieb die „NYT“, Nagano habe den Streichern ein warmes Glühen entlockt, das von innen heraus zu leuchten schien. Diesen „behutsamen und wohlüberlegten Umgang mit Rhythmus, Betonung und Dynamik“ habe er beim nächsten Programmpunkt, Beethovens Achter Sinfonie, verlässlich beibehalten.
Über Shepherds Werk war zu lesen, dass er über eine fantastische Klangfarbenpalette verfüge. „Das Stück holt so weit aus, dass Nagano mitunter weniger wie ein Dirigent, sondern mehr wie der Kapitän eines riesigen Kreuzfahrtschiffs wirkte, der sein übergroßes Gefährt in einen bescheidenen Hafen zu lotsen hatte.“
Carnegie Hall: Nach dem Konzert ist vor dem Konzert
Großer Beifall, zum Runterkommen danach ging es für geladene Gäste – darunter auch der Hamburger Unternehmer Michael Otto, der diese Unternehmung unterstützt hatte – noch in den Rohatyn Room und den Shorin Club Room, wo sowohl Nagano als auch Otto Reden hielten.
Am späten Sonntagabend hatte der Ausnahmezustand ein Ende, mit dem Rückflug über London nach Hamburg. Wer es einrichten konnte, hing noch zwei Tage New York an diese Dienstreise. Ansonsten aber galt und gilt die Profimusiker-Devise: Nach dem Konzert ist vor dem Konzert.
Hamburger Aufführungen von „On a Clear Day“: 28.4. 20 Uhr / 30.4., 11 Uhr, Elbphilharmonie, Großer Saal. Eventuell Restkarten an den Tageskassen.