Hamburg. Die große Lyrikerin und Schriftstellerin will die Welt retten. Und erinnert sich an sexistische Zeiten auf dem Planeten Erde.

Im Februar waren sie mit einem Male da, die Eichhörnchen. Zwei waren es; zunächst auf dem Balkontisch. Und dann kamen sie auf die Bücherregale, ins Schlafzimmer. Ulla Hahn versorgte die Eichhörnchen mit deren Lieblingsspeise. Mit Nüssen. „Keine Erdnüsse“, sagt sie, „die vertragen sie nicht“.

Ulla Hahn, Hamburgs große Lyrikerin und Romanschriftstellerin („Das verborgene Wort“) sitzt in ihrem Wohnzimmer, als sie sich an die Momente erinnert, die ursächlich waren dafür, dass jetzt ihr ganz sicher überraschendstes Buch erscheint. Es heißt „Tage in Vitopia“ und erzählt von den Eichhörnchen Wendelin und Muzzli. Sie leben auf den Bäumen neben einer Villa an der Alster. Wendelin und Muzzli sind aufmerksame Beobachter der Zeitläufe. Sie merken, dass die Erde die Menschen nicht mehr verträgt.

Ulla Hahn darf einfach mal kurios sein

Die Erde, auf der sie, die Eichhörnchen, gemeinsam mit den Menschen leben. Was brauchen die Zweibeiner? Einen, Pardon, Tritt in den Allerwertesten! Und mindestens Unterstützung aus der Tierwelt, um den Planeten doch noch zu retten. Im Hambacher Forst marschieren Mensch und Eichhörnchen dann schon Seit’ an Seit’, um die Abholzung zu stoppen. Und später dann gibt es eine Konferenz der Tiere in Vitopia, dem Ort, an dem Tiere und Menschen nicht nur im Dienste der Sache dieselbe Sprache sprechen, dem VIPs der Menschheitsgeschichte wie Charles Darwin ihre Aufwartung machen und die künstliche Intelligenz in Person von Bots ihren Auftritt hat. Sie alle wollen eins: die Erde beschützen.

Wenn Hahn dieser Tage über ihre „Tage in Vitopia“ spricht, dann treibt sie ihr Spiel übrigens noch weiter. Sie habe den Roman gar nicht selbst geschrieben, nein, dessen Hauptfigur Wendelin Kretschnuss habe ihn ihr diktiert. Ulla Hahn darf das, einfach mal kurios sein; und überhaupt ist „Tage in Vitopia“, jenem sprachlich federnden und gedanklich so schwerwiegenden Buch großer Erfolg zu wünschen.

Einst geriet sie in eine Demonstration von Fridays for Future

Es ist das Zeugnis einer intensiven Beschäftigung mit der Gefahr, in der sich die Erde befindet. Sie habe nicht mit erhobenem Zeigefinger schreiben wollen, sagt Hahn, die 77 Jahre alt ist, also in ihrem Leben die Heraufkunft und den Erfolg(?) grünen Denkens lange studieren konnte. Tatsächlich ist „Tage in Vitopia“ der Ökoroman, den Hahn noch vor 25 Jahren nicht so lässig hätte schreiben können. Nicht, weil es damals noch kein Fridays for Future gab – vor ein paar Jahren geriet Hahn bei einem Besuch in Ulm unvermittelt in einen der Aufzüge der klimabewegten Jugend, sie fand es beeindruckend. Nein, weil sie im Prozess ihrer Selbstfindung noch nicht so weit war, nach draußen zu schauen. Aufs große Ganze.

So erzählt sie es mit Blick auf die autobiografische Tetralogie, mit der sie über fast zwei Jahrzehnte beschäftigt war. „Ich musste mich im Schreiben der vorangegangenen vier autobiografisch basierten Romane wohl erst selbst befreien, herausfinden, wie ich die wurde, die ich jetzt bin, ehe ich mich dem Thema des neuen Romans zuwenden konnte“, sagt Hahn.

Ulla Hahn "verliebte" sich in den Visionär Lovelock

Sie hat viele Sachbücher gelesen in der jüngeren Vergangenheit. Und dabei genauso wie bei der Arbeit an den Texten zu einer „Urknallkantate“ für das Hamburger Philharmonische Orchester manches gelernt über die, wie sie es nennt, „scheinbar unüberbrückbare Kluft zwischen dem naturwissenschaftlichem und philosophisch-poetischem Blick auf unsere Erde, den Kosmos, das All“.

Die Kluft versucht Hahn jetzt zu schließen. Indem sie den Geist von E.T.A. Hoffmanns fantastischen Erzählungen mit dem Werk des englischen Naturwissenschaftlers und Erfinders James Ephraim Lovelock (1919-2022) vermählt. Sie habe sich in den Visionär regelrecht „verliebt – mit seiner Gaia-Theorie hat Lovelock das ökologische Weltbild revolutioniert und mich maßgeblich zu den letzten Kapiteln meines Buches inspiriert“.

„Zahlen gehen nicht unter die Haut"

Das Buch ist hell geraten, es kann mit Amüsement gelesen werden. Sie wolle den sorgenvollen Blick auf die Zukunft „in eine neugierige Zuversicht verwandeln“, sagt Hahn. Die Möglichkeiten Künstlicher Intelligenz, warum denn nicht? Vor allem auch in Bezug auf den Umgang mit dem Klimawandel! Wie ihr literarisches Konzept zeigt, ist Hahn, vielleicht ist das die grundlegend frohe Natur der gebürtigen Rheinländerin, nicht gewillt, in Depressionen zu verfallen.

Und dennoch spricht sie vom erschrockenen Erwachen, wenn sie von Fernsehdokus über den jetzt bereits herrschenden Wassermangel erzählt. Und nimmt die gesamte Kunst in die Pflicht, für eine Umkehr der Spezies Mensch zu sorgen. „Zahlen gehen nicht unter die Haut, Bilder und Geschichten schon“, sagt Hahn.

Selbstkasteiung nur die zweitbeste Lösung

Man darf das wohl erstaunlich nennen, dass eine Frau im Spätherbst ihres Lebens („Der Verlust all der Schönheit, wenn wir ganz prosaisch vom Verschwinden der Artenvielfalt reden, den will ich den Leserinnen und Lesern zeigen“) so viel Leidenschaft aufwendet, um für die, die noch länger auf dem Planeten sind als sie, eine lebenswerte Grundlage zu fordern.

Und zumindest interessant, dass sie der Frage ausweicht, ob die Menschen ihrer Generation nicht auch ihren Beitrag geleistet haben, den Planeten Erde vor die Wand zu fahren. Vielleicht, weil Selbstkasteiung nur die zweitbeste Lösung ist und jede PR für grünes Denken, wie ihr neues Buch, die weitaus zielführendere Strategie. Und weil so ziemlich jeder zulasten der Umwelt lebt, warum mit dem Finger auf Leute zeigen, wo 1000 Finger und mehr auf einen zurückdeuten.

Klaus von Dohnanyi quert den Raum

Am Sonnabendabend wird Hahn bei der Langen Nacht der Literatur ihren Roman dem Hamburger Publikum vorstellen. Im Werner-Otto-Saal der Kunsthalle wird sie aus „Tage in Vitopia“ lesen, mit Spaß an der Sache. Sie habe, das sagt Hahn mehrere Male, in keiner Phase ihrer Karriere je darüber spekuliert, wie die Öffentlichkeit auf ein neues Werk reagiert. Das sei auch jetzt so, aber man meint ihr das Wissen darum, wie besonders ihr neues Buch ist, anzumerken.

Wenn man bei ihr zu Hause ist, im schönen Altbau an der Alster – was ja alle paar Jahre mal vorkommen kann, wenn sie zum Tee und Gespräch wegen eines neuen Buchs bittet –, dann tritt immer irgendwann Hahns Ehemann ins Bild. Nur kurz, zur freundlichen Begrüßung oder, weil er unterwegs ist in sein Arbeitszimmer. Klaus von Dohnanyi, der ehemalige Erste Bürgermeister, ist also kurz da und gleich wieder weg. Aber notwendigerweise wähnt man ihn anschließend noch ein bisschen länger im Zimmer. Dann nämlich, als es um Politik geht. Ulla Hahn berichtet von Gesprächen, Diskussionen. Es sind in diesen Tagen des Kriegszustandes in Europa die gleichen wie in vielen Haushalten.

Klima wegen des Kriegs "beinah abgeschrieben"

Gewaltige Erregungsräume bietet das Geschehen im Osten, und Hahn betritt sie ohne Zögern. Weil der Krieg ja auch ihr Anliegen gekillt hat, übers Klima wird kaum noch geredet dieser Tage, dabei hatte Greta Thunbergs Initiative doch gerade noch so massiv Schlagzeilen bestimmt.

„Es ist nicht nur bedauerlich, es ist gefährlich, dass das Klima wegen des Kriegs nun wieder beinah abgeschrieben scheint“, sagt Hahn, und geht anschließend noch weiter. Es rede niemand mehr über Frieden, „dabei müsste der Westen, obwohl Putin eindeutig der Aggressor ist, alle Redekanäle für mögliche Verhandlungen mit ihm offen halten“.

„Die Welt hört nicht auf zu beginnen“

Ulla Hahn: „Tage in Vitopia“. PEnguin-Verlag. 256 S., 24 Euro
Ulla Hahn: „Tage in Vitopia“. PEnguin-Verlag. 256 S., 24 Euro

Für den Augenblick verdüstert sich die Stimmung. Hahn, eben noch im Eichhörnchen-Modus darauf aus, die Hoffnungsschimmer einzusammeln, sagt plötzlich, dass sie manchmal doch denke, es sei zu spät für die Rettung des Planeten. Das will man, angesichts der vorherigen geballten Positiv-Agenda und diesbezüglich zwischenzeitlichen Bereitschaft, der Weisheit ihres Alters unbedingt zu vertrauen, dann doch wieder nicht hören.

Wie es sich sonst so mit dem Thema Endlichkeit verhält, der persönlichen, nicht der planetarischen? Hahn verweist auf den letzten Satz ihres Buches, er lautet überaus poetisch „Die Welt hört nicht auf zu beginnen“. Und dann sagt Hahn noch, es geht vom Sprach- und Gedankenschönen wieder ein Trost aus, dass dennoch irgendwann „einmal ein paar Kinder auf meinem Sternenstaub Fußball spielen“.

Ulla Hahn hat zwei Patenkinder

Dass sie mit denen, die heute jung sind, eine Verbindung hat, liegt übrigens an ihren zwei Patenkindern, die neun sind und zwölf. Sie wachsen in eine Welt hinein, die anders aussehen wird als die, in der Ulla Hahn jung war.

Und auch als die, in der sie älter wurde, ihre Wege suchte und fand, was Bildung, Ideale, Beruf angeht. Sie gehörte relativ schnell zu den Etablierten in ihrer Branche, mit manchen Vor- und Nachteilen. Der Literaturbetrieb, sagt Ulla Hahn, sei früher überschaubarer gewesen; als langjährige Literaturredakteurin bei Radio Bremen, die selbst Autorin war, sei sie Neid und Missgunst begegnet.

Der Literaturbetrieb als Männerbastion

Männer haben diesen Betrieb eindeutig dominiert, das weiß jeder, der sich an die Feuilletonseiten in den Zeitungen von vor zwei oder drei oder vier Jahrzehnten erinnert. Oder wer in germanistischen Seminaren etwas über die deutsche Literaturgeschichte als Männerbastion gelernt hat und patriarchalische Strukturen in der Gesellschaft grundsätzlich identifiziert.

„In meinem Fall war die männliche Dominanz besonders zweischneidig, Marcel Reich-Ranicki förderte mich durch den Abdruck meiner Gedichte und eine große Rezension“, sagt Hahn, „was mir Anerkennung, aber auch eine mindestens so große neiderfüllte Ablehnung einbrachte“. Das auszuhalten sei nicht einfach gewesen: „Kaum ein Verriss, der nicht damit begann, dass ich klein und zierlich sei und große dunkle Augen habe, oder so ähnlich; das würde heute keiner mehr wagen, da geht man/frau raffinierter vor.“

Ulla Hahns neuer Roman ist ein Text über Liebe

Und dennoch ist ihr Leben im Beruflichen glücklich gewesen, bis heute. Und nicht nur da, auch im Privaten. „Wissen Sie, das Schreiben hat mein Leben immer bestimmt, ohne dieses Schreiben hätte ich meinen Mann nie kennengelernt“, sagt Ulla Hahn, die Frau, die als Arbeiterkind gegen viele Widerstände in Sphären aufstieg, die ihr nicht vorherbestimmt waren. Als Lyrikerin ist sie nicht nur in ihrer Generation zu den wichtigsten zu zählen.

Der Mann wirft ihr übrigens einen Luftkuss zu, als er den Raum quert, in dem das Interview stattfindet, und man denkt dann automatisch an den Band mit Liebesgedichten, den Ulla Hahn mal veröffentlicht hat. Wenn man so will, ist Ulla Hahns neuer Roman „Tage in Vitopia“, auch ein Text über die Liebe. Die zu unserem Planeten, und da kann man nicht kitschig genug sein.