Hamburg. Kent Nagano und das Philharmonische Staatsorchester begannen müde, aber die zweite Hälfte überzeugte in der Elbphilharmonie.
Seit einigen Jahren gibt es die Tendenz, Brahms‘ Werke ein bisschen zügiger zu nehmen, mit rascheren Tempi als früher. Aber nicht bei Kent Nagano und dem Philharmonischen Staatsorchester im Großen Saal der Elbphilharmonie. Zumindest nicht am Sonntagvormittag. Schon die ersten Takte der dritten Brahms-Sinfonie, mit dem markanten Kernmotiv, deuten es an: dass sich die Aufführung Zeit nehmen wird, um die Musik auszukosten. Viel Zeit.
Obwohl Nagano mitunter deutlich voraus ist, lässt sich sein Orchester nicht aus der Ruhe bringen. Gerade im Kopfsatz finden die Philharmoniker einen sanft schwingenden Puls und einen warmen Klang. Er hat die dunkle, romantische Schwere, die Brahms manchmal braucht, und bleibt trotzdem durchlässig. Für die Synkopen der Mittelstimmen. Oder den sanften Gesang der Holzbläser, den die Orchestersolistinnen und Orchestersolisten fein modellieren.
Beim berühmten Poco Allegretto von Brahms versiegt der Spielfluss
So weit, so schön. Aber die, sagen wir mal, behutsame Annäherung an die Sinfonie birgt auch ihre Gefahren. Das Andante steht streckenweise schon fast auf der Stelle. Im Poco Allegretto scheint der Fluss dann aber endgültig zu versiegen. Ausgerechnet! Bei diesem wohl berühmtesten Satz des Komponisten, der es mit dem Film „Lieben Sie Brahms?“ in die Popkultur geschafft hat. Keine Spannung in der Melodie. Kaum Bewegungswille. Puh. Spätestens da wirkt Naganos Dirigat nicht mehr nobel zurückhaltend, sondern schlafmützig. Obwohl er mit mehr Feuer ins Finale geht, klebt an der ersten Hälfte der Eindruck einer Vormittagsmüdigkeit.
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Die ist nach der Pause allerdings schnell weggepustet. Igor Strawinskys „Les Noces“ („Die Bauernhochzeit“) bringt einen krassen Wandel von Klangsprache, Adrenalineinschuss und Besetzung. Statt eines Orchesters sitzen jetzt vier Pianisten und sieben Schlagwerker auf der Bühne. Dahinter stehen noch die vier Vokalsolistinnen und -solisten und der 50 Mitglieder umfassende Staatschor Latvija aus Lettland.
Die Tanzkantate „Les Noces“ ist der Höhepunkt des Konzerts
Ein ungewöhnliches, starkes Ensemble, mit dem Strawinsky eine eigentümliche Klangwelt schafft. Die Tanzkantate „Les Noces“ – geschrieben für die Ballets Russes – beschwört das Fantasiebild einer russischen Hochzeit auf dem Land. Mit rauen, teilweise auch grellen Sounds und den für Strawinsky so typischen Taktwechseln und rhythmischen Irritationen. Auch wenn nicht jeder Akzent präzise sitzt, fesselt die Aufführung mit überraschenden Grooves und Farben – und erreicht ein Energielevel, von dem die erste Hälfte noch weit entfernt war.