Hamburg. Die südafrikanische Sopranistin Golda Schultz spricht über ihre Angst vor Bühnen, ihren Karriereweg und warum sie keine Kritiken liest.

Auf dem Cover ihrer Debüt-CD fliegen Notenblätter um sie herum. Das passt. Mit Golda Schultz über Musik zu sprechen, das hat etwas sehr Stürmisches, Wirbelwindhaftes. Ihr Karriereweg aus Südafrika an viele große Opernhäuser war steil, Ende August ist sie beim Finale des Schleswig-Holstein Musik Festivals in einer konzertanten „Porgy and Bess“-Aufführung mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester in Kiel zu erleben. Ein Gespräch mit der südafrikanischen Sopranistin über Lampenfieber und Lebenspläne.

Hamburger Abendblatt: Sie haben als Journalistin gearbeitet, also: Wie würden Sie ihre Stimme beschreiben?

Golda Schultz: Eine Sopranstimme, manchmal singe ich hoch, manchmal tief und manchmal in der Mitte.

Welche Bühne ist für Sie am furchterregendsten?

Schultz: Jede Bühne. Ich habe wirklich schreckliches Lampenfieber. Zu Beginn meines Gesangsstudiums bin ich nach Auftritten immer wieder umgekippt. Ich habe vor jeder Bühne Angst.

Viele haben schon mit zweieinhalb Jahren für sich entdeckt, dass sie unbedingt Musikerin oder Musiker werden wollen. Sie nicht. Wie kam die Wende?

Schultz: Ich hatte Journalismus studiert und sang bei einer Veranstaltung ein Lied, danach bin ich sofort ohnmächtig geworden, total peinlich… Zum Professor habe ich dann gesagt: Vielen Dank, aber das ist gar nichts für mich. Er sah mich an und antwortete: Leider muss ich dich enttäuschen: Du darfst nicht aufhören. Ich habe das Gefühl, dass du ein riesiges Talent hast, du brauchst nur eine Chance, um dein Lampenfieber zu überwinden, denn was du als Künstlerin zu sagen hast, ist vielleicht wichtiger als deine Angst. Ich meinte: Aber was, wenn ich wirklich sterbe vor Angst? Er antwortete: Dann sage ich deinen Eltern, dass alles meine Schuld ist. Und wir haben weitergemacht.

Und wie ging es für Sie weiter?

Schultz: Ich interessiere mich sehr für die Geschichten in den Opern, für die komplexen Frauenfiguren, die ich in den Partituren treffe. Da werfe ich mich hinein, das Lampenfieber ist mir dann egal, die Geschichte ist wichtiger als ich. Ich will Opernsängerin sein, ich will eine große Karriere haben? Das kam nicht für mich in Frage. Vielmehr wollte ich mehr über die Welt der klassischen Musik und Oper lernen, Fragen stellen und Antworten finden.

Ihr Vater, ein Mathematik-Professor, war wahrscheinlich nicht sofort begeistert von dieser Entscheidung?

Schultz: Nein. Mein Vater ist ein sehr logischer Mensch, man muss ihm bei Diskussionen immer viele Argumente nennen. Er wollte ein paar Tage darüber nachdenken, danach kam er zurück und sagte: Ok, wenn Du das unbedingt machen willst, verstehe ich das. Du musst dich aber eventuell selbst unterhalten können, du musst genügend Geld verdienen. Deswegen frage ich dich: Was ist dein Plan, wie schaffst du das? Du hast ein paar Tage, um mir eine Antwort zu geben. Ich habe ihm danach meinen Lebensplan vorgestellt und er meinte: Ok. Wenn du einen Plan hast, unterstützen wir dich. So war das.

Und dieser Plan geht nach wie vor auf?

Schultz: Der war total anders und ganz einfach: Ich wollte nur genügend Geld verdienen, um meine Miete zu zahlen, Lebensmittel zu haben, Urlaub zu machen, Rentenversicherung zu haben und Steuern zu zahlen. Diese Liste war für mich viel wichtiger als die Frage, wo ich singe. Große oder kleine Karriere, das war mir wirklich total wurst. Ich wollte selbstständig sein, als Kind meiner Eltern und Frau in der Welt. 2012 habe ich meinen Eltern eine Mail geschrieben: Ich habe es erreicht, ich habe einen Job, ich bin glücklich. Alles was ich jetzt inzwischen habe, ist das Sahnehäubchen auf dem Sahnehäubchen.

Ein interessanter O-Ton von Ihnen: „Ich will nicht, dass das Publikum mich sieht, es soll sich selbst sehen.“ Was ist damit gemeint?

Schultz: Mich interessiert an der Oper, was uns als Menschen verbindet. Als Kind war ich Film-, Theater- und Musical-Fan und es war immer so cool, sich vorzustellen: Wie wäre es, wenn ich solche Abenteuer erleben würde, würde ich genauso handeln wie Indiana Jones oder Prinzessin Leia oder Luke Skywalker? Oh nein, mein Vater ist Darth Vader, was mache ich jetzt…? Diese Fantasie habe ich immer noch. Theater und Oper bieten die Möglichkeit, andere Leben anzuschauen. Die Menschen im Publikum können, wenn das gut gemacht ist, über ihre eigenen Leben nachdenken. Sie auf eine emotionale Reise zu locken, das ist die Aufgabe, die große Herausforderung.

„San Francisco Classical Voice“ nannte Sie „The unstoppable Golda Schultz”. Das ist nicht schlecht, aber ist es auch wahr?

Schultz: Nein! Eine unaufhaltsame Kraft im Universum bin ich nun wirklich nicht. Im Leben habe ich auch viele Enttäuschungen erlebt: Ich musste mein Heimatland verlassen, um diese Karriere zu starten. Ich kann meine Familie nicht so oft sehen; einmal pro Jahr versuche ich nach Hause zu fliegen, um meine Seele aufzutanken. Aber trotzdem: Ich wohne in Deutschland, habe gute Freunde und tolle Jobs, reise in tolle Städte. Doch manchmal ist man sehr einsam. Ich nutze meine Karriere, um mich als Person zu verbessern.

Der „Tagesspiegel“ schrieb im Februar über einen Liederabend mit Ihnen: „Einer dieser Abende, von denen man später seinen staunenden Mitmenschen berichtet: Ja, ich war dabei, als es für einen Auftritt von Golda Schultz noch Karten an der Abendkasse gab“, von „Noten wie Diamanten“ war zu lesen. Wie schwer ist es, danach nicht größenwahnsinnig zu werden und sich selbst einen Heiratsantrag zu machen? Also: Glauben Sie, die Ex-Journalistin, was über Sie geschrieben wird?

Schultz: Jetzt muss ich etwas erklären: Ich lese Kritiken nicht. Mein Team und meine Agentur stellen das auf meine Website, ich kümmere mich gar nicht darum. Ich bedanke mich dafür von Herzen, aber ich sehe das so: Die Beziehung zwischen Kritiker und Künstler ist nicht so direkt, wichtiger ist die zwischen Kritiker und Publikum. Er sagt ihm: Hier kommt etwas Interessantes, du solltest Dich kümmern.

Auf Ihrer Debüt-CD „This Be Her Verse“ stellen Sie Lieder von Komponistinnen vor, von Clara Schumann, Emilie Meyer, Nadia Boulanger und Zeitgenossinnen. Vor einigen Jahren war es wahrscheinlich noch komplett unmöglich, so etwas auf den Markt zu bringen. Wie haben Sie dieses Projekt realisiert?

Schultz: Eigentlich habe ich dafür der Corona-Pandemie zu danken. Die Idee für dieses Programm ist schon 2019 entstanden, mein Pianist Jonathan Ware und ich programmieren immer gemeinsam: Ich habe eine Idee, und er schickt mir eine riesige Liste mit Musik. Wir haben gute Musik von Frauen gefunden und haben sie Veranstaltern vorgeschlagen. Und alle sagten: Das ist ein bisschen zu Avantgarde für unser Publikum, etwas Brahms dazu, dann könnte das etwas einfacher sein… Ich war ein echter Sturkopf und habe geantwortet: Mit Respekt, aber: nein. Und dann kam Covid. Der BR brauchte Programm für seine Radiokonzerte. Danach gab es so viel Positives vom Publikum: Was für ein wahnsinnig cooles Programm war das?! Der BR hat uns zwei, drei Studio-Tage gegeben und vorgeschlagen, damit zu einem Plattenlabel zu gehen. So wurde das Album geboren.

Sehr elegant. Sie haben offensichtlich etwas ziemlich richtig gemacht.

Schultz: Ja, das Album spricht zum Zeitgeist. Wie ist es, eine Frau in der Welt zu sein? Was sind die Positionen von Frauen in der Gesellschaft? Das ist so wichtig: Repräsentation zählt. Wenn man so etwas sieht, hat man mehr Grund zur Hoffnung. Und Hoffnung ist der Grund, warum wir als Menschen weitergehen. Gebt den Menschen die Hoffnung, dass sie gesehen werden.

Können Sie dennoch nachvollziehen, wenn jemand bei einem Konzert nur gut unterhalten werden möchte?

Schultz: Sicher kann man das so sehen. Aber was ich als Südafrikanerin in meinem Leben gelernt habe: Das Leben ist politisch. Das Persönliche ist politisch. Wir Künstlerinnen und Künstler arbeiten nicht in einem Vakuum, wir sind auch Menschen. Nicht jeder Tag muss politisch sein. Man kann auch mal in die Oper gehen und nur Puccini hören wollen. Ich bin keine Anwältin für das Politische, sondern für die Menschlichkeit. Für Menschen. Und die Menschen sind unterschiedlich. Wir sind komplex!

Gehen Sie bei Proben Ihren Kolleginnen und Kollegen manchmal auf die Nerven, wenn die sagen: Ok, A-Dur, aber Sie kommen ihnen aber mit Politik und Aufklärung und ähnlich großen Gedanken?

Schultz: Das ist die Arbeit, die mich interessiert. Was aber nicht heißt, dass ich auf einer Probe sage: Hey Leute, habt ihr gewusst, dass Mozart Feminist war… Nein, das mache ich nicht! Das ist meine persönliche Beziehung zur Musik; das nutze ich als Feuer, um meine Kreativität herauszubringen.

Sie haben auch schon an der New Yorker Met gesungen. Es gibt für solche Häuser das Klischee vom „park and bark“ – sich hinstellen und losröhren, Hauptsache tolle Kostüme und viele Kulissen, ganz anders als beim europäischen Regietheater, das Stücke von links nach rechts umkrempelt. Leiden Sie, wenn Sie nur ein Kreuz auf der Bühne bekommen, wo Sie brav zu stehen haben?

Schultz: Manchmal leide ich und manchmal versuche ich, ein bisschen provokativ zu sein, dann frage ich: Wie wäre es, wenn wir etwas anderes tun? Bei Wiederaufnahmen kommt man manchmal links rein und muss rechts wieder raus, an manchen Punkten muss man dieses oder jenes machen. Aber wie man das macht, das ist die interessante Arbeit.

Jetzt geht es für mich auf dünnes Eis. Ich vermute, ich darf diese Frage stellen, Sie dürfen sie auf jeden Fall beantworten: Zu Gershwins „Porgy an Bess“ gibt es die Ansage, dass das Stück szenisch nicht von Weißen gesungen werden darf. Ist das richtig so?

Schultz: Einfach gesagt: ja. Warum nicht?

Weil Weiße diese Partien genauso gut singen könnten, aber kategorisch ausgeschlossen werden?

Schultz: Es ist kompliziert. „Porgy and Bess“ ist nicht nur eine historische Geschichte, das ist eine echt politische Geschichte. Die Branche der klassischen Musik findet noch immer Wege und Systeme, um schwarze Musikerinnen und Musiker auszubremsen. „Porgy and Bess“ ist ein Vehikel, um zu zeigen: Schau, hier gibt es Talente. Es gibt schöne Geschichten über schwarze Lebenserfahrungen, die auch von Hoffnung, Liebe, Enttäuschung erzählen. Warum das so wichtig ist? Wenn man eine Gemeinschaft nicht sieht und nicht Teil von ihr ist, wird der Schutz für die Geschichten dieser Gemeinschaft wichtig, weil Repräsentation zählt. Sobald diese Geschichten den Mittelpunkt der Bühne einnehmen, wird es schwieriger, diese Gemeinschaft zu missachten. Gershwin hat es so entschieden und die Gershwin Foundation bleibt bei dieser Einstellung, weil es um Respekt vor der Geschichte der schwarzen Diaspora in Amerika geht, um die Lebenserfahrungen schwarzer Menschen in Amerika. Diese Historie soll beschützt werden, um sie bedeutend zu machen. Und damit habe ich kein Problem.

Wenn Sie eine Opern-Vorstellung hinter sich haben, Sie sind entweder glücklich geworden oder gestorben oder umgebracht worden – wie lang hält das noch nach? Dieselt das nur ganz kurz nach oder brauchen Sie drei Stunden, bis Sie wieder Golda Schultz sind?

Schultz: Nachdem der Vorhang unten ist, sind wir normalerweise total glücklich, voller Freude. Ja, er geht zuerst runter, aber dann fährt er wieder hoch und es kommt der Moment mit den Reaktionen des Publikums. Da zeigt es uns: Wir schätzen deine Arbeit, danke, dass du dabei warst. Dann ist es ganz einfach für mich, den Schalter umzulegen und zu denken: Jetzt bin ich total Golda, ich habe etwas gespielt auf der Bühne, das war nicht ich, das war eine Geschichte und jetzt kommt der Moment von mir und dem Publikum.

Dann ist der Job vorbei.

Schultz: Ich liebe meinen Job! Ich empfinde Leidenschaft für meinen Job! Aber was für mich dabei immer klar ist: Es ist immer noch ein Job. Ich bin ein komplizierter Mensch, mit vielen Ideen zu vielen Themen. Ich könnte auch als Journalistin so sein, als Hausfrau oder als Erzieherin in einer Kita. Die Arbeit ist nur ein Ausdruck meiner Persönlichkeit. Auch als Straßenreinigerin wäre ich eine komplizierte und coole Persönlichkeit und würde meinen Job leidenschaftlich erledigen, weil ich ihn gut machen möchte. So sorge ich für meinen Lebensunterhalt. Vielleicht werden mich einige dafür hassen, aber: Dieser Job ist nicht mein Leben. Für mich ist das wichtig. So habe ich das Gefühl, Freiheit zu haben.

Wo sehen Sie sich – oder wo sieht Ihr Masterplan Sie in zehn Jahren?

Schultz: Auf einem Balkon, Blick aufs Meer und einen Cocktail in der Hand.

Und wenn es mit dem Singen mal nicht mehr so klappen oder keinen Spaß mehr bringen sollte – dann zurück in den Journalismus? Oder ist dieser Zug endgültig abgefahren?

Schultz: Journalismus interessiert mich noch immer. Vielleicht würde ich als Moderatorin zum Radio gehen, aber mich interessiert auch die Erschaffung neuer Werke. Ich möchte auch Produzentin sein. Jungen Sängerinnen und Sängern helfen, um in dieser komischen Industrie weiterzukommen, besonders, wenn sie, so wie ich, nicht den traditionellen Background haben.

Termine: 27. August, 19.30 Wunderino Arena Kiel. „Porgy and Bess” mit dem NDR-Orchester und Alan Gilbert (Dirigent). Karten und Infos: www.shmf.de. 26. Mai 2023: Wiederholung - aber mit anderem Cast - in der Elbphilharmonie. Aktuelle Einspielung: „This Be Her Verse” (Alpha / BR, CD ca. 20 Euro)