Hamburg. Das City of Birmingham Symphony Orchestra mit dem Cellisten Sheku Kanneh-Mason spielte ein russisches Programm in der Elbphilharmonie.

Ohne Tonspur hätte man glatt glauben können, dass Vassily Sinaisky lauwarm irgendwelche Mozart-Sinfonien dirigieren würde, und nicht klassischen Tschaikowsky und garstigen, gallebitteren, späten Schostakowitsch. Mit großen, fordernden Gesten hatte er es eindeutig nicht so. Gute alte russische Schule, weiter als über die Grundfläche seiner Partituren hinaus bewegte der 74-Jährige sich fast nie. Das wäre, wenn alles bei diesem Elbphilharmonie-Konzert des City of Birmingham Symphony Orchestra (CBSO) wie geplant gelaufen wäre, garantiert sehr anders gewesen, hätte die frisch an Corona erkrankte, etwa halb so alte Mirga Grazinyte-Tyla inszeniert.

Also kein unablässiges elegantes, beidhändiges Gesten-Ballett, kein kluges, inniges Umarmen der Musik. Klare Zielvorgaben und schnörkelbefreite Ansagen. Das CBSO war aber auch so bestens im Training, die elegante Präzisionsliebe der Chefin hört man in deren Abwesenheit überall heraus.

Tschaikowskys „Romeo und Julia“ klingt, wie sich Tolstoi liest

Staunen über die Güte durfte man schon von Anfang an: Tschaikowskys „Romeo und Julia“-Ouvertüre hatte ab Takt 1 diesen satten, samtig-dunklen Klang zu bieten, der klingt, wie sich Tolstoi liest. Wunderbar, wie millimetergenau der Holzbläser-Satz die Farben nuancierte, toll auch die bestens abgestufte Erzählweise, mit der diese Musik dramatisch aufgefächert wurde. Dass Tschaikowsky gut und gern eine Extraportion saftigen Nachdruck durch Pauken und Trompeten verträgt, ohne sich dadurch ins laut Grobe zu verlaufen, wusste und dosierte Sinaisky genau und effektvoll.

Noch tschaikowskyiger wurde es nach der Pause mit der Vierten. Fiebrig federnd der Einstieg in den ersten Satz, mit Holzbläser-Soli, die so sanft wie die ersten Schneeflocken eines langen Winters ins Geschehen schwebten. Das Pizzicato-Mobile der Streicher als reizende Vorbereitung des Finale-Tosens. Noch mehr Blech, noch mehr Pauken – einmal Tschaikowsky-Spektakel mit alles und extra fein. Ein Teodor Currentzis hätte bis hierhin schon das zweite Büßerhemd durchgeschwitzt, in Sinaiskys Frack saß wahrscheinlich jede Bügelfalte tadellos.

Schostakowitschs Spätwerk gezeichnet vom durchlittenen Leben

Harter, smarter Kontrast zu so viel Geschichtsunterricht war das 2. Cellokonzert von Schostakowitsch, an das sich der immer noch sehr junge Sheku Kanneh-Mason herantraute. Kein „schönes“ Stück, beileibe nicht. Düster zerfasernde Melodie-Linien, ein sehr typisches, schroffes Spätwerk, gezeichnet vom durchlittenen Leben. Dieses Konzert litt Qualen, seine Sätze endeten nicht, sie verendeten. Kanneh-Mason machte diese existenzielle Zerrissenheit eindrucksvoll und schmerzhaft hörbar.

Die vergrübelten, traumatisiert wirkenden Selbstgespräche, mit denen das Solo ständig am Tutti vorbeizuspielen hatte, als ginge all das das Cello längst nichts mehr an, verlangt eine Empathie mit Schostakowitschs Vokabular, die deutlich schwieriger zu erreichen ist als durch bloße Virtuosität. Die ließe sich mit Fleiß früher oder später erüben. Kanneh-Mason hat das Stück verstanden. Ganz andere Liga.