Hamburg. Schau- schlägt Nährwert: Frank Castorfs provokante Inszenierung von Mussorgskys „Boris Godunow“ eröffnet die Spielzeit der Staatsoper.

Am Bühnenbild hat’s jedenfalls nicht gelegen. Aleksandar Denić, Frank Castorfs Mann fürs Spektakelnde, hat ihm für diesen Blick auf Mussorgskys „Boris Godunow“ einen multitaskenden Sowjet-Plattenbau auf die Staatsopern-Drehbühne gestellt. Zu bestaunen ist ein wieder einmal tolles Männerspielzeug: Auf einer Seite ein Schmierlappen-Café mit Kantinenanbau, daneben ein Staatenlenker-Casino mit Billardtisch für die Freizeitgestaltung und als Strategiespiel-Metapher, und ein U-Boot-Turm mit Paradeabnahme-Balkon fürs Repräsentieren der Zarenmacht, während unten die Hofschranzen Intrigen-Fallstricke auslegen oder vom Volk mit seinen Prozessionsfahnen um himmlischen Beistand gebeten wird. Oben in einem Sichtfenster ist gut erkennbar eine Stalinbüste im Wimmelbild platziert, als Zwischendurch-Zugabe wird ein sozialistisches Monumentaldenkmal aufgefahren. Und in die Fassade sind, klar, Hammer und Sichel eingelassen.

Staatsoper Hamburg: Castorfs Provokationen bei „Boris Godunow“

Dass Castorf den Chor in der ersten Szene zum Singen frontal an der Rampe abstellt, wirkt wie die erste von einigen abgespulten Provokationen. Ihr wollt von mir von Anfang an Gewusel und Chaos? Dann geb ich euch das genaue Gegenteil, gern geschehen.

Videoleinwände für Handkamera-Zuspielungen und Nahaufnahmen? Sowieso, weil immer noch eine Erzählebene mehr hineinzupassen hat in dieses schnell berechenbare Durcheinander. Überrascht hätte kaum, wenn hier, warum auch immer, die „Siegfried“-Krokodile aus Castorfs Bayreuther „Ring“ kryptisch herumgelegen hätten. Nur vier, fünf energische Dramaturgie-Denkschleifen und Fußnotenangaben auf vergriffene sowjetische Romanklassiker – und schon hätte Castorf garantiert auch diese Biester noch in die Plot-Deutungsanweisung hineinbehauptet. Aus dem Überwältigungs-Routinier Castorf wird eben kein Peter Brook mehr, der dieses Drama mit einem Wodkaglas, einem kaputten Kugelschreiber und sonst nichts wahrscheinlich klarer und zwingender erzählt bekommen hätte.

Staatsopern-Premiere: Was Macht aus Machtmenschen macht

2020 war Castorfs „Boris“ bereits als Saisonstart an der Dammtorstraße geplant gewesen, dann aber: Corona. Der von ihm stattdessen inszenierte Ideen-Zettelkasten „Molto agitato“ war damals eine interessante Notlösung. Corona scheint inzwischen vorbei, der von Putin entfesselte Ukraine-Krieg dauert und dauert. Castorf ist wieder da. Mit dieser unhandlich großformatigen, kurzen Chor-Oper, arrangiert um einen altrussischen Zaren im späten 16. Jahrhundert, der zwischen eigenen Ambitionen und den Intrigen anderer aufgerieben wird.

Es hätte eine klar dechiffrierende Steilvorlage für eine aktualisierende Auseinandersetzung mit den Themen Macht und Ohnmacht, Oben und Unten werden können, mit dem Kreml als zeitläuftebefreites Epizentrum des Bösen, oberhalb jeder gerade herrschenden Staatsdoktrin. Bei Castorf wurde es aber nur – ein weiterer Castorf-Abend mit obligater Musik als Mittel zum Selbstzweck. Schauwert schlägt Nährwert (tolle Kostüme und viel Detailverliebtheit übrigens, bis hin zu den tätowierten Beinen des Gottesnarren). Zumal die in Episoden aufgesplitterte Handlung deutlich komplexer ist als das üblichere Er-trifft-Sie-Sortiment im Staatsopern-Spielplan; wer seine Hausaufgaben vorab nicht gemacht hat, wird dort viele bärtige Männer sehen, die lang und breit aus ihren Vollbärten heraussingen, bis am Ende einer stirbt. Wer, wann und wie gegen wen und warum? Viel Spaß beim Auseinandersortieren.

Staatsopern-Premiere: Der Staatsopern-Chor ließ sich von den Aufgaben nicht einschüchtern

Hier hat Castorf es jedenfalls mit dem Kampf ums Überziehen übertrieben. Die Inszenierung dreht frei, sie dreht sich beim Bebildern von Godunows Aufstieg und Fall eitel um sich selbst. Interessanter Kontrast, dass einen Abend zuvor Karin Beier im Schauspielhaus bei ihrem „Dionysos“-Abend so überzeugend stark auf die fantasieanregende Kraft des gesprochenen Schauspielworts setzte.

Das Schlussbild der Inszenierung.
Das Schlussbild der Inszenierung. © Brinkhoff-Moegenburg

Bei dieser Gelegenheit aber wurde von Castorf auch der Glauben der Massen als Aberglauben gleich mit abgeräumt, im Kleinen in der Videoversion des Polen-Bilds, im Größeren, als sich kurz ein UdSSR-Propagandaplakat mit dem Kosmonauten Juri Gagarin vom Bühnenhimmel herabsenkt, mit dessen stramm staatstragender Ansage „Es gibt keinen Gott!“ Den gibt es im allerletzten Bild auch nicht mehr bei Castorf – stattdessen aber, als finalen Klassenkrampf-Pointen-Hammer, eine riesige eisgekühlte Coca-Cola-Flasche auf einem Louis-Vuitton-Luxusköfferchen-Podest. Der Zar, auch dieser Zar ist schon wieder tot, es lebe und überlebe einzig der Konsum? Kleiner als derart überlebensgroß zynisch hat Castorf es offenbar nicht als Moral-Schlussstrich.

Kent Nagano liefert solide aus dem Graben

War sonst noch was? Gesungen wurde ordentlich bis sehr ordentlich, Alexander Tsymbalyuk gab seiner Titelrolle im Rahmen des hier Machbaren Tiefe und Profil. Der Staatsopern-Chor ließ sich von den Aufgaben nicht einschüchtern. Generalmusikdirektor Kent Nagano, ohnehin nicht als Maestro für pralles Pathos bekannt, schien mittendrin das Nachschärfen der eigenwilligen Musik Mussorgskys eingestellt zu haben und lieferte aus dem Graben solide zu, was vonnöten war.

Beim Abholen des Schlussapplauses wirkte Castorf, betont lässig erwartungsfroh ins Rampenlicht flanierend, kurz überrascht, dass so gar kein wütender Widerstand auf ihn eintrümmerte. Die eigentliche Spielzeit-Eröffnungssensation dürfte also womöglich erst die „Salome“-Premiere mit Asmik Grigorian am 29. Oktober werden.

„Boris Godunow“ wieder 20./23./26. und 28.9. sowie 4. und 7.10., Hamburgische Staatsoper; Karten unter www.staatsoper-hamburg.de