Lübeck. Peter Konwitschnys Inszenierung von Mussorgskys Oper „Boris Godunow“ überzeugte am Theater Lübeck nicht immer.
Ein Liebling der tumben Massen, die sich – besoffen entweder von der Macht oder vom weggebecherten Wodka – durch obszönen Reichtum und vaterländische Betäubungs-Lügen blenden lassen. Die Hurra-Parolen werden auf Spruchbändern von oben vorgegeben, der Begeisterung wird mit Schubkarren voller Gold nachgeholfen. Ein System, das den Intriganten-Kreml gut sichtbar mit dicken Schichten Gold überzieht, die einzige Farbe auf den Wink-Elementen ist: pures Gold.
Der Tanz ums Goldene Kalb, hier wird er zur Shopping-Promenade konsumgeiler Goldblondinen aller Art, vor einer Hüpfburg, die wie ein riesiger Einkaufswagen geformt ist. Die politischen Akteure: Figuren in einem ebenfalls rundum vergoldeten Kasperletheater. Wer nicht aufpasst oder das Richtige zur falschen Zeit sagt, der wird vom Krokodil gefressen. Der Nächste, bitte. Nur einer, der durch unklar bleibende Strippenziehereien nach oben gekommene Machthaber Boris selbst, ist noch ärger dran: Er wird von Selbstzweifeln zerfressen, mürbe vom Machtspiel, umzingelt von Gegnern.
Das Finale biegt scharf vom Original-Kurs ab
Als der Regisseur Peter Konwitschny, eher nicht für zarte Zurückhaltung beim Bebildern großer Stoffe und Themen bekannt, seine grell zynische Sichtweise auf Mussorgskys Zaren-Oper „Boris Godunow“ entwarf, die im Herbst 2016 in Nürnberg Premiere hatte, da war Donald Trump noch nicht zum US-Präsidenten gewählt worden. Und Wladimir Putin war schon etliche Jahre in Moskau als Zar 3.0 an allen Hebeln der Macht. Es wäre viel zu einfach für den Querdeuter Konwitschny gewesen, lediglich frontal auf die Bühne zu stellen, was damals schon wahr war oder es zu werden drohte. Nun ist das Stück auf seiner Theater-Coproduktions-Tournee von Nürnberg über Olso in Lübeck angekommen, die realpolitischen Absurditäten haben sich mittlerweile dramatisch verschärft. Dem Biss von Konwitschnys Regiearbeit allerdings hat es eher geschadet, von der Wirklichkeit eingeholt, wenn nicht sogar überholt worden zu sein. Die postfaktischen Verhältnisse, sie sind inzwischen schon wieder ganz anders.
Kapitalismus? Sozialismus? Nationalismus? Meinungsmonopolismus? Alles unmögliche Seiten ein und derselben Kopeke. Das Regisseurs-Dasein ist eh zu kurz für politische Korrektheit. Und obwohl sich Konwitschny schon für die gestraffte, episodischere „Boris“-Erstfassung entschieden hatte (gut zwei Stunden, keine Pause, kaum Beziehungsdramen), litt diese Version immer dann unter selbst verschuldeten Längen, wenn sie nicht plakativ loswettern und den Holzhammer schwingen konnte, sondern sich in den Kammerspiel-Szenen verlief. Dass die musikalische Umsetzung bei allem Ehrgeiz, mit der gereiften Prominenz des Regie-Gastes mithalten zu wollen, einige Wünsche unerfüllt ließ, machte den Abend letztlich auch nicht erfreulicher.
Sperrige Musik
Zunächst: Wer hier gegen wen und warum? Die aufgefrischten deutschen Texte von Bettina Bartz und Werner Hintze waren dabei nicht allzu sachdienlich. Noch bedauerlicher: Die raue, scharfkantige und eigenwillige Sperrigkeit der Musik Mussorgskys bekamen Ryusuke Numajiri und die Philharmoniker nicht angemessen in den Griff, es blieb zu oft beim vagen Halbrunden. Und auch dem Lübecker Chor hätte man einige tragende Stimmen mehr gewünscht, um die Wucht seiner Szenen entsprechend umzusetzen. Herausragend daraus: die sonore Kraft von Ernesto Morillo in der Titelrolle und das Gegengewicht seines Gegenspielers Pimen (Denis Velev); auch der Fieslings-Tenor Schuiski (Alexander James Edwards) sorgte für schöne Momente.
Eine Konwitschny-Produktion ohne konsequent umgekrempelten Schluss als Moral zur der Geschicht’? Das war schon während seiner weitgehend tollen Jahre als Stammregisseur neben Ingo Metzmacher an der Hamburgischen Staatsoper fast immer die Regel und nur selten Ausnahme. Auch im kleineren Haus in der benachbarten Hansestadt biegt das Finale scharf vom Original-Kurs ab: Boris stirbt nicht, er ist dann mal weg, Flucht aus dem System, während auch aus der Hüpfburg schon die Luft raus ist. Weg mit der Zarenkrone, rein ins Hawaiihemd; erlösender Ab- und Ausstieg in den Orchestergraben. Brüder, Genossen, zum Tutti, zur Freiheit. Freundlicher, keineswegs euphorischer und leicht erschöpft wirkender Premieren-Beifall.
„Boris Godunow“ 2./15. /22.2., 3./10. 16.3, 13./28.4. und 16.5., Theater Lübeck, Informationen und Karten: www.theaterluebeck.de