Von JOACHIM MISCHKE

Hamburg - Die Binsenweisheiten des Premierenabends zuerst: Große Politik ist reichlich kompliziert, erst recht für russische Zaren. Man muss über Leichen gehen können, öffentlich auch mal andere Dinge sagen als insgeheim denken, muss dem Volk entweder aufs Maul schauen - oder hauen. Das Wissen um die finsteren Wurzeln dieser Staatsmacht kann auch schon Macht sein. Aber: Je mehr Menschen dieses wissen oder auch nur glauben, desto vertrackter wird die Chose. Das könnte in etwa das Regiekonzept von Travis Preston für seinen "Boris Godunow" in der Hamburgischen Staatsoper gewesen sein.

Der Amerikaner, der dort vor anderthalb Jahren mit Nonos "Al gran sole" ins bunt bebilderte intellektuelle Schlingern geriet, kam auch jetzt bei seiner Inszenierung von Mussorgskis Zaren-Drama nicht über pathetisch posierende Massenaufläufe und Politkarikaturen aus der Rumpelkammer des einstigen Riesenreichs hinaus. Die waren jedoch so steif, als hätte er das Figuren-Profil mit der Laubsäge erarbeitet. Sehenswert oder gar revolutionär war jedenfalls nur wenig.

Zeitlos brauchbare Schablonen sollens ja auch sein, gelenkt von der unberechenbaren Sucht nach Macht, raunt einem der Subtext aus dem Programmheft entgegen. Doch das, fragt man sich angesichts des gestenarmen Rampentheaters weit vor dem Finale nach dreieinhalb Stunden, kann doch wohl nicht alles an tieferer Werk-Einsicht gewesen sein. Boris - Zar und vermeintlicher Zarenmörder, Retter und Ruineur in Personalunion - sollte unter seiner Krone ein tragischer, zwischen Macht und Schuld zerriebener Mensch sein. Für Preston ist er bloß austauschbare Staffage. Schon bei seiner Krönung wird er, wie vakuumverpackt, aus einer Frischhalte-Ikone unter der Kreml-Glocke (Bühnenbild und Kostüme: Nina Flagstad) auf den Spitzenjob losgelassen, au naturel in zivilem Hemd und Hose.

Neuer Zar, neues Glück? Es blieb beim guten Einfall für diesen Moment, kam aber nicht zu wesentlich mehr. Hier machte Paata Burchuladze (im Gegensatz zur verwackelten Orchesterbegleitung, der einige Schnitzer und Unsauberkeiten auch im Chor folgten) mit seinem raumfüllenden Bass durchaus Staat. Doch das änderte sich bald: Personenführung gabs ja kaum, also blieb ihm bis zum Tod durch Selbsterkenntnis nur zweierlei: Entweder sorgenbeladen die Arme zu heben - oder nicht; viele Noten laut, aber unbelebt zu singen - oder eben gar nicht.

Zumindest stimmlich hatte diese Inszenierung einiges zu bieten: Neben Burchuladze glänzte am Premierenabend Kurt Rydl (Pimen) als Einspringer für Harald Stamm. Yvonne Naef (Marina) sang ausdrucksstärker, als sie spielen durfte. Albert Bonnema (Grigorij) hatte mitunter Konditionsprobleme, Egils Silins als Fiesling Rangoni war eine Wucht.

Doch was nützen leuchtende, starke Stimmen, wenn sie im Bühnen-Einerlei verblassen? Die Schänkenszene: Nur per Libretto wieder zu erkennen, die Kneipe liegt nun wohl am Transitzubringer in den Westen und ist ansonsten so amüsant wie ein Auffahrunfall. Das Kloster, in dem Pimen Grigorij auf Thron-Kurs bringt: vergitterte Einzelzellen, die stummen Mönchlein in drei Etagen wie im Setzkasten aufgereiht. Der Schlossgarten, in dem Grigorij von Marina aufgestachelt wird: ein Industriepark als Spielwiese für Neureiche und ihre Flintenweiber, in dem der Brunnen von einem Ölbohrturm gespeist wird und qualmende Schornsteine statt Bäume wachsen - plumpe Kapitalismuskritik, viel zu leicht gemacht und zu grobkörnig, um die Macht ins Mark treffen zu können. Preston liebt komplizierte Fragen, gibt aber nur simple Fast-Antworten. Das abschließende Kromy-Bild: irgendwo, irgendwie, irgendwann. Die russische Volksseele ist in Wallung, der neue Zar fährt im Cabrio vor wie weiland Kennedy in Dallas. Man ahnt schon wieder Böses im nächsten Busch. Dann kommt der Gottesnarr (Jürgen Sacher) und weint in schönsten Tönen um Russland. Vergeblich. Auch das Stück als Ganzes hätte Mitleid verdient.

Preston musste sich heftige Buh-Rufe gefallen lassen, auch Generalmusikdirektor Metzmacher kam für eine eher mittelmäßige Philharmoniker-Leistung nicht ganz ungeschoren davon.