Hamburg. Bilderrätsel mit Verwirrungs-Beilagen: Staatsoper eröffnete mit Frank Castorfs Musik-Theater-Projekt „molto agitato“ ihre Spielzeit.

Bei frühen Regie-Vorbesprechungen mit Frank Castorf wäre man sehr gern in der Staatsoper dabei gewesen, um womöglich solche theaterreifen Szenen zu erleben: „Du, Frank… Was die Musik angeht: Wie wäre es mit ein bisschen Händel, Frank? Ginge das? Der ist total hübsch, dachten wir, am Anfang Barock, das beruhigt die Nerven... – Meinetwegen. Mir doch egal. Habt ihr die große US-Fahne schon fertig?“

„Super, Frank! An der Fahne sind wir dran. Und Händel haben wir übrigens später noch mal. Da kann dann dieser Trickfilm laufen, den uns dein Assistent gestern geschickt hat. Wo ihr immer diese Dinger findet, irre… Aber nach dem ersten Händel würden wir echt gern mit Ligeti weitermachen. ,Nouvelles Aventures’. Hat keinen Text, den man verstehen kann, aber wenige Musiker, das kennt eh keiner, viel zu modern. Musst Du mal reinhören. – Meinetwegen. Mir doch egal. Ich inszenier euch das dicht, das Ding.

Die paar Musiker? Pffff, die stellen wir auf die Rollbühne. Die kommt von der Seite rein und wieder raus, bisschen Video druff, fertig! Sonst noch was? – Hast du was gegen Brahms-Lieder, Frank? Der war ja nun mal Hamburger, das geht schnell, braucht auch nur ein Klavier als Begleitung. – Meinetwegen, mir doch egal. Macht doch, was ihr wollt. Kamera, Leinwand, bisschen Profil in groß. Das wird. Ich lass übrigens meine Leute über Madonna palavern, auf Russisch und Weanerisch. Versteht auch keiner…. Aber, Leute… und wehe, das klappt nicht! Beim Weill will ich die riesige US-Fahne, voll bling bling, auf dem Rollwagen.

Voll auf die zwölf, Kapitalismus, Hammer, alles klar? Das muss knallen! Riesig muss die werden, Leute! Echt RIESIG! Und jede Menge Video-Kameras. Die Bühne, bis ganz hinten, die lassen wir komplett leer. Bis auf die eine Ecke, für Anna und ihren Kram. Kein Bock mehr auf Kulissen, echt nicht. Ich bin das so leid! Ach ja, einen Jeep, der fahren kann, brauch’ ich auch. Das kriegt ihr hin, oder? Hab’ ich euch eigentlich schon die Geschichte von den Krokodilen für den ,Ring’ in Bayreuth erzählt, als Katharina… Verdammt..! Noch Fragen, Kinder? Ich muss los, der ICE nach Berlin. Tschüssi! Ruft an, wenn was ist.“

Die Premiere: Etwa 500 maskentragende Menschen statt über 1600

Als Frank Castorf 2018 am Schauspielhaus O’Neills „Der haarige Affe“ inszenierte, hatte er im Video-Mitschnitt eines Probengesprächs erläutert, was ebenso für sein Debüt an der Dammtorstraße als Gebrauchsanweisungs-Pate taugen könnte: „Wenn es noch peinlicher ist als peinlich, dann entsteht Kunst. Das muss man bloß aushalten.“ Peinlich war dieser Abend, mit dem die Staatsoper ihre Saison eröffnete, ganz und gar nicht. Aber auszuhalten, das war er. Sehr gut sogar. Keine zwei Stunden, in Castorfs Zeit-Maßstäben nur ein flotter Prolog, keine Chance für zähes Lahmen ab der dritten von sechs Stunden. Nur, dass das Eigentliche fehlt. Ein Stück. Was wiederum Absicht war und Notwehr und Lösung zugleich.

Wäre die Welt noch so, wie sie gewesen war, hätte Castorf einen „Boris Godunov“ realisiert. Chormassen, Machtkämpfe, Mussorgskis pathosdampfende Musik, das extragroße Opern-Besteck. Doch nun: alles anders. Sicherheitsabstände statt auf alles und jeden los mit Gebrüll. Etwa 500 maskentragende Menschen statt über 1600, verhaltene Stimmung in den Foyers; Abwarten auf ein Projekt, das Unsicherheiten reflektiert. Es geht los. Geht es wirklich wieder los?

Applaus am Ende war ungestört, sehr dankbar – und kurz

Die größten Symbole für die aus dem Takt geratene Gegenwart und die Leerstellen im Leben waren die Video-Bilder der Gesangsszenen auf der Leinwand, die dort immer einen Tick neben der Musik waren. Und diese leergefegte, riesige Bühne selbst, umrahmt von Bodenlampen, wie die Landebahn, auf der Bruce Willis in „Die Hard 2“ vergeblich einen Jet im Anflug noch zu retten versuchte. Das entblößte, klaffend geleerte Nichts. Die Katastrophe, der sprichwörtliche Elefant im Raum. Das Zuwenig. Diese Zumutung, nicht tun zu können, was man möchte, sondern gerade mal das bisschen Kunst, was man jetzt darf, ohne Anfassen.

Und alles, obwohl längst nicht alles verständlich, erstaunlich anregend und kurzweilig. Obwohl und weil Castorf nur lieferte, wofür er seit Jahrzehnten bekannt ist: Verfremdung, Verfilmung, Verwirrung, Verzweiflung, Verachtung, Verlangsamung. Verstörung. Hirnkitzel eben. Genau das, was allen monatelang fehlte. Wohl auch deswegen war der Applaus am Ende so ungestört und sehr dankbar. Allerdings auch kurz.

Tscheplanowa wurde zum Leit-Star der Ideen-Collage

Die Musikauswahl wirkte bis zu Weills „Sieben Todsünden“ arg beliebig, und so klang sie über weite Strecken auch. Matthias Klink sang Brahms’ „Vier Gesänge“ op. 43 zwar mit ernster, klarer Durchdringung; der Ligeti, für drei kunstvoll brabbelnde Stimmen und ein Kammerorchester, war sicher eine haarige Fleißarbeit. Doch hätte es den hübsch softpornösen Zeichentrickfilm als Bild-Soundtrack zu Ausschnitten aus Händels „Aci, Galatea e Polifemo“ nicht gegeben, wäre diese Etappe ein von Kent Nagano allzu brav absolvierter Durchhänger.

Das aber machte der Schlenker zu Quentin Tarantino wieder wett, zu der grandios irren Szene aus „Reservoir Dogs“, in der Michael Madsen als Mr. Blonde dem Polizisten ein Ohr abrasiermessert. Castorf hatte, warum auch immer, diese Szene detailgetreu nachgedreht, mit Georg Nigl als schmierlappigem Wiener und Valery Tscheplanowa als blutendem Opfer. Tscheplanowa – Castorfs Gretchen im Volksbühnen-Abschieds-„Faust“ und 2019 die Salzburger „Jedermann“-Buhlschaft – war es auch, die als Anna zum Leit-Star der gesamten Ideen-Collage wurde. Knallroter Latex-Anzug und viel Körpereinsatz, und dazu diese auf Krawall gebürstete Nicht-Opern-Stimme, die mit dem Charme eines gezielten Nierentritts auftrat, um sich alles vom Leben zu nehmen, worauf sie Lust hat.

Ab Tscheplanowas erstem Solo wurden alle anderen Mitwirkenden bei Weills räudig swingender Moritat zu Nebendarstellern, das mitunter doch sehr lendenlahm verwaltete Orchesterchen inbegriffen. Ihre Präsenz füllte die Bühne, selbst wenn sie nur als Videobild eingespielt wurde, oder sich als Ikone des Widerstands gegen Mächtige inszenierte, die sich vor der US-Fahne in Pose setzt. Eine Produktion, die unverdrossen durch Castorfs Leitmotiv-Katalog mäandert – und dabei oft das Richtige trifft.

Weitere Termine: 8. / 12., / 15. / 21. / 23. / 26.9. jew. 19.30 Uhr. Karten (12 bis 109 Euro) unter T. 356868 www.staatsoper-hamburg.de