Max Richard Leßmann hat einen grandiosen Roman über Sylt geschrieben. Er ist gleichzeitig eine raue Ode an alle Opas und Omas.

Der Erzähler dieses rauen und zärtlichen, in seine Familie und in alle Familien hineinhorchenden Romans ist ein Kind des Meeres. Er stammt aus Husum, aber seine prägendsten Erfahrungen mit der See hat er vielleicht auf Sylt gemacht. Dem Ort, an dem er mit seinen Großeltern jeden Sommer urlaubte.

Und was ist das für ein Meer da um die Insel herum, die für ihn eine der Seligen ist, aber nur, wenn man seine Familie, wenn man die Großmutter oder den Großvater so akzeptiert, wie sie ist und wie sie sind? Es ist ein Meer, das einem das Trommelfell crashen kann. Max Richard Leßmann erweist sich als begnadeter, mit Nordseewassern gewaschener Autor, als er in seinem glänzenden Romandebüt „Sylter Welle“ seine Hauptfigur, die große Züge von ihm selbst trägt, diese schmerzhafte Erfahrung machen lässt. „Die Nordsee dieses eine Mal zu oft unterschätzt“ habe er, resümiert der selbstkritische Ich-Erzähler Jahre später, als er sich an die „brachiale Schönheit“ erinnert, die mit seinem Badeunfall einherging, sie währt immer.

Roman über Sylt: Die Nordsee kann ein ruppiges Meer sein

Sie baute sich vor ihm auf an jenem typischen Tag am norddeutschen Meer, die Schönheit dieser Wellen, die bei Rotbeflaggung auf den Wenningstedter Strand bretterten. Als „todbringendes fauchendes Schaumbad, das keinen Unterschied macht zwischen Treibholz, Mensch und Wattwurm“ – hier versteht sich jemand auf die dramatische Zuspitzung. Der junge Max war jedenfalls beinah der Einzige im Wasser, nicht mal Kitesurfer waren da, und die brauchen doch Wellen und Wind. Aber das war dann doch zu viel. Der Erzähler erfuhr es am eigenen Leib, als er von einer besonders stürmischen Welle von den Füßen gerissen und gegen den einzigen anderen Menschen im Wasser geschleudert wurde. Autsch.

Max Richard Leßmann auf Sylt: Ein Ort seiner Kindheit.
Max Richard Leßmann auf Sylt: Ein Ort seiner Kindheit. © Tim Bruening

Es ist die Nordsee! Sie kann ein ruppiges Meer sein. Das Leben kann ruppig sein, und die, die man, so hat die Natur das eingerichtet, liebt, lieben muss, die Leute aus der eigenen Familie, können auch ruppig sein. Versehrt von der See schleppte sich der Junge zum Strandkorb, zu seiner Oma Lore, dir sich vor dem Wind in Sicherheit gebracht hatte und ihren Enkel, der wirklich kaum laufen konnte, maximal verkniffen anblickte und dann – wie gesagt: ruppige See, ruppige Leute – sagte: „Jetzt lass doch mal das elendige Gewese. So kalt war es jetzt doch auch nicht.“

Neues Sylt-Buch: Stippvisite am Ort früher Prägungen

Es gibt ein Freizeitbad auf Sylt, das sich „Sylter Welle“ nennt. So heißt nun also auch dieser grandiose Roman, mit dem der mittlerweile in Berlin lebende, in seinem ersten Künstlerleben als Frontmann der Indierockgruppe Vierkanttretlager in Erscheinung getretene Leßmann den Versuch unternimmt, seinen Großeltern ein Denkmal zu setzen, indem er die Zwei-Generationen-Beziehung gerade nicht romantisiert.

Familien sucht man sich nicht aus, und sie sind, in ihren Dynamiken, Routinen und Ansagen, oft so herb wie Oma Lore und Opa Ludwig. Die besucht der Erzähler in der Erzählgegenwart, es ist die Stippvisite des längst erwachsenen Mannes am Ort früher Prägungen. Er trifft auf die Hinfälligkeit speziell des Opas, und er nimmt diese vermutlich letzte Sylter Reise zu den Altvorderen zum Anlass, zurückzuschauen auf das Herkommen aus seiner Familie. Leßmann gelingt es dabei, die Zeitebenen mit langen Einschüben auf elegante, weit ausholende Weise miteinander zu verschränken.

Sylt-Beobachtungen: Der alte Gosch als ewiger Pate der Insel

Sylt-Beobachtungen („Die Innenstadt von Sylt ist wirklich schwer auszuhalten“, „Der alte Gosch, ewiger Pate der Insel, hat sich gerade das einzig schöne Gebäude in der gesamten Hauptstraße gesichert und baut es kostspielig um“) machen dieses Buch auch zum Insel-Buch. Aber es taugt doch noch mehr als literarischer, auf die richtige, die spröde Art anrührender Bericht von der Familienfront.

Wobei der Krieg tatsächlich eine Rolle spielt, wenn Leßmann vom Schlesienflüchtling Ludwig erzählt, der auf dem Weg nach Westen fast an Typhus starb. Die Großeltern sind Repräsentanten ihrer, der Kriegsgeneration, und als solche sind sie für ihr Leben gezeichnet – als Menschen mit anderen Erfahrungen als ihre Kinder und Kindeskinder. Leßmann gelingt es vorzüglich, die Annäherung seines Erzählers an Lebensumstände zu zeigen, die nicht seine sind.

Max Richard Leßmann: „Sylter Welle“, Kiwi, 221 Seiten, 22 Euro
Max Richard Leßmann: „Sylter Welle“, Kiwi, 221 Seiten, 22 Euro

Zu Oma Lore hat er eine enge Bindung und das, obwohl sie nicht zwangsläufig die liebe, tätschelnde, Eiapopeia-Oma ist. Im Gegenteil, sie agiert mehr noch als Opa Ludwig mit einer gewissen Härte, die mehr ist als westfälische Sturheit. Mit ihrer Schwiegertochter, der Mutter des Erzählers, gibt es erhebliche Disharmonien. Oma Lores Lebenstrauma liegt weit in der Vergangenheit, es offenbart sich dem Erzähler erst spät.

„Sylter Welle“: Die Bitternis des Älterwerdens

Sein Erinnern entbehrt nicht selten der Komik. Selbst den frühen Ungehaltenheiten des Großvaters, seinem ewigen Tadel, der die „unkontrollierte“ Art des Kindes meint, wohnt im Nachhinein etwas Leichtes inne. Vielleicht, weil man bei Opa und Oma zwar nie Narrenfreiheit hat und auch Kritik einstecken muss, aber bestimmte erzieherische Prämissen weniger ernst genommen werden müssen. Dass Opa vergesslicher wird, wird dem erwachsenen Erzähler später schmerzhaft bewusst.

Das Finale des finalen Sylt-Besuchs an der Strandmuschel-Bühne in Westerland („Sie mutet ein wenig an wie die Oper von Sidney für Arme. Nur eben für Reiche“) ist eine kleine, große Szene, in der es der Enkel ist, der nun die Verantwortung für den Älteren übernimmt.

Sylt-Roman: Leßmann hat Roman über die Vergänglichkeit geschrieben

„Sylter Welle“ ist ein Familienporträt, in dem Apfelringe die Madeleines der Erinnerung sind. Es geht um die Süße der Kindheit und die Bitternis des Älterwerdens. Beschrieben werden, in größeren und kleineren Aufblendungen, drei Generationen. Zum frühen Verlust kommt ein später; die erste tiefe Trauer des Erzählers, als sein Lieblingsonkel früh stirbt. Der Mann, von dem er den Musikgeschmack hatte, wegen dem er eine Band gründete und auch sonst das Beste („Jacob, wegen dem ich bis heute Fan von Werder Bremen bin, auch wenn ich es kaum noch schaffe, mir die Spiele anzusehen“) mit auf den Weg bekam.

Max Richard Leßmann hat einen Roman über die Vergänglichkeit geschrieben, dessen Sätze glitzern wie die Nordsee an einem Sonnentag. Dieser Roman hofft auf die Unsterblichkeit der Großeltern, weil er nicht anders kann.