Hamburg. Im neuen Roman „Zur See“ erzählt die Bestsellerautorin vom Inselleben und im Interview von ihrem Auftrag als norddeutsche Influencerin.
Mit einigem Recht kann man Dörte Hansen als Botschafterin Norddeutschlands bezeichnen. Wobei die 1964 in Husum geborene Frau an erster Stelle eine glänzende Schriftstellerin ist. Eine Schriftstellerin, die in ihrem Debüt „Altes Land“ zunächst den urbanisierten Speckgürtel der Metropole porträtierte und in „Mittagsstunde“ dann das verschwindende Landleben in der Provinz. Beide Bücher wurden Bestseller.
Jetzt hat die Exhamburgerin Hansen, die schon länger wieder in Husum lebt, ihren dritten Roman geschrieben. Er heißt „Zur See“ und ist Anlass, mit Dörte Hansen ausführlich über das Inselleben zu sprechen. Dörte-Hansen-Festwochen sind eh: Die Verfilmung von „Mittagsstunde“ läuft jetzt in den Kinos.
Wie vermutlich viele Leserinnen und Leser frage ich mich, welche der Nordseeinseln Ihnen am meisten Inspiration war. Wollen Sie uns das verraten?
Dörte Hansen: Es gibt nicht eine bestimmte Insel, die mir „Modell gestanden“ hätte für mein Buch. Meine Familie war immer sehr mit der Nordsee, den Halligen und den Inseln verbunden. Wir hatten ein kleines Boot im Hafen von Nordstrand, mit dem wir durch die Husumer Bucht geschippert sind. Mein Vater hatte Lehrlinge und Gesellen von Pellworm und Langeness, die jahrelang bei uns gewohnt haben, und wir waren oft bei ihren Familien zu Gast. Zum Baden ging es nach Rømø oder auf die Hamburger Hallig, und meinen ersten richtigen Insel-Urlaub habe ich auf Fanø gemacht.
Auf Sylt habe ich sechs Wochen lang als Zimmermädchen gearbeitet, und auf Föhr war ich zum ersten Mal als Studentin, ich habe ja Friesisch studiert. Die Insel in meinem Roman trägt Züge all dieser Inseln und Halligen. Mir geht es in „Zur See“ nicht um das Spezifische, sondern um das Verbindende. Die Insel, die ich beschreibe, ist so etwas wie der Archetyp einer Nordseeinsel.
Haben Sie sich, im Zuge des Entstehungsprozesses dieses Romans, ein paar Herbste auf Eilanden vollregnen lassen, um die Kälte der Umgebung und das In-die-raue-See-Geworfensein der Insulaner in sich aufsaugen zu können?
Hansen: Method Writing, meinen Sie? Das hätte sicher seinen Reiz gehabt! Aber ich habe so oft frierend auf Inselfähren gestanden, mich auf Deichen nassregnen und vom Sturm herumschubsen lassen, dass ich das Gefühl hatte, es reicht für diesen Roman. Den Rest habe ich erfunden, das ist ja mein Job.
„Zur See“: Wie ist der neue Roman von Dörte Hansen?
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Haben die Insel-Ureinwohner gerne mit Ihnen geredet? War Plattdeutsch eine vertrauensbildende Maßnahme?
Hansen: Plattdeutsch oder Friesisch und ein Auto mit NF-Kennzeichen schaden sicher nie, wenn man mit Hallig- oder Inselleuten ins Gespräch kommen möchte. Allerdings habe ich für „Zur See“ keine Interviews geführt und bin nicht journalistisch an dieses Buch herangegangen. Ich durfte aber ein paar Tage lang in der Bibliothek der Ferring-Stiftung auf Föhr recherchieren. Eine Schatzkammer! Bewacht von sehr freundlichen, hilfsbereiten Schatzhütern.
In Ihrem Roman geht es, um es mal psychosoziologisch zu sagen, um transgenerationelle Erfahrungen und das Erbe der Seeleute, das in den heutigen Inselleuten mit ihren Trockenjobs weiterlebt. Ist das mehr Ballast der Vergangenheit oder einfach nur das, was es bedeutet, eine Identität zu haben?
Hansen: Was mich vor allem interessiert, ist die Frage: Gibt es dieses Erbe eigentlich? Was bedeutet es denn, wenn wir sagen, dass ein Mensch geprägt sei? Was tragen wir noch in uns von den Eltern, Großeltern, Urgroßeltern? Gibt es so etwas wie den Inselmann oder die Inselfrau noch? Hat es sie je gegeben? Oder sind das Mythen, an die wir glauben wollen und die wir immer weitergeben, weil wir alle in Geschichten denken?
Ryckmer, eine ihrer Hauptfiguren, ist das Kapitänspatent von der Weißen Wand entrissen worden. Für mich ist er die vielleicht tragischste Gestalt in diesem Buch. Er säuft sich die Furcht vor Sturmfluten weg, kriecht bei Mutter und Geschwistern unter. Ich lese ihn, den Womanizer mit Seemannsbart, natürlich auch als moderne Figur, die im Maskulinen auch Schwäche offenbart. Bei ihren Recherchen müssen Sie, was das Nautische angeht, vor allem auf männliche Lebenswelten gestoßen sein.
Hansen: Ryckmer Sander ist ein Seemann, der Angst vor der See hat. Das macht ihn zu einer tragischen Figur. Dabei ist die See tatsächlich furchterregend, das weiß auf einer Insel und auf einem Schiff natürlich jeder Mensch. Er spricht es aber aus, beziehungsweise schreit es heraus, als er mit seinem Schiff in diese Monsterwelle gerät. Er ist der Mann, der nicht mehr funktioniert. Es muss seinen Kurs radikal ändern, schafft es am Ende auch halbwegs, aber er lernt es auf die harte Tour.
Jens Sander, der Vater Ryckmers, lebt jahrzehntelang als Vogelwart im letzten unberührten Gebiet der Insel. Ein Mann, der lange die Tiere den Menschen vorzieht. Vielleicht, weil letztere irgendwann immer auf die Idee kommen, auch das letzte Refugium der Natur an Investoren zu verkaufen. Wie nehmen Sie den oft als „Ausverkauf“ bezeichnete Entwicklung in den Tourismusregionen wahr?
Hansen: Ich beobachte diesen Ausverkauf auch in meiner eigenen Nachbarschaft, obwohl ich auf dem Festland lebe. In Nordseenähe sind die Haus- und Grundstückspreise für Familien nicht mehr zu bezahlen. Jetzt werden hier gerade das Freibad und der Campingplatz geschlossen, und ein Investor plant auf dem Gelände ein „Destinature“-Dorf für zahlungskräftige Urlaubsgäste. Und das ist gar nichts gegen das, was beispielsweise auf Sylt geschieht. Gut, dass es dort seit ein paar Jahren das Bürgernetzwerk „Merret reicht’s“ gibt. Allmählich findet es Gehör, höchste Zeit!
Um auf „Zur See“ zurückgekommen: Bei der Lektüre und den Problemen, die die Ureinwohner der Insel mit Zugezogenen und Touristen haben, werden manche tatsächlich an das Sylt-Buch „Friesennerz und Ozelot“ denken. Und ich finde den Umstand herrlich, dass im Herbst, im Winter, im Frühjahr und im Sommer viele Menschen beim Urlaub auf Sylt oder Norderney Ihren Roman mit seinen Anti-Tourismus-Spitzen lesen und sich nicht gemeint fühlen werden. Es sind ja immer die anderen!
Hansen: Genau, es sind immer die anderen! Die Existenzform „Tourist“ hat ja immer etwas Würdeloses. Man schaut den Einheimischen beim Leben zu und ist die meiste Zeit damit beschäftigt, irgendetwas zu fotografieren, etwas Essbares aufzutreiben oder eine Toilette zu finden. Und besonders kränkend ist es dann, wenn man entdeckt, dass man exakt die gleichen Bedürfnisse hat wie all die anderen.
Ich erlaube mir die Spitzen gegen die Ringelshirt tragenden Nordseetouristen, weil ich weiß, dass ich als Reisende genauso bin. Ich war gerade ein paar Wochen auf den Färöern und musste sehr an mich halten, um nicht in einem dieser typischen schönen Wollpullover zurückzukommen. Ich habe es geschafft, aber es war sehr knapp!
In Ihrem zweiten Roman „Mittagsstunde“ waren Wandel und Veränderung auch ein großes Thema. Sie sind eine wenn nicht nostalgische, so doch sicher melancholische Schriftstellerin. Mindestens interessiert Sie der Moment, wenn das Verschwinden eine Lücke hinterlässt, in die etwas Neues stößt. Hat sich dieses Interesse entwickelt, oder war es schon immer da?
Hansen: Vor Nostalgie versuche ich mich zu hüten, melancholisch könnte stimmen. Was mich interessiert, sind die psychologischen Folgen gesellschaftlicher Veränderungen. Dort liegt wohl mein Erzählraum, in diesem Spektrum zwischen dem Verlust und der Befreiung. Ich weiß auch gar nicht, ob ich mir meine Themen wirklich suche. Sie finden mich, scheint mir.
Seit Ihrem Debüt „Altes Land“ im Jahr 2015 sind Sie, die promovierte Linguistin und gelernte Journalistin, Bestsellerautorin. An den Zustand konnten Sie ich jetzt einige Jahre gewöhnen. Überfallen Sie manchmal Augenblicke, in denen Sie denken, gleich wache ich auf und alles war nur geträumt?
Hansen: Nein, mittlerweile nicht mehr. Geblieben sind eine gewisse Ungläubigkeit, große Dankbarkeit – und die Freude darüber, dass der Erfolg so spät gekommen ist. Mein Leben hat sich verändert, ich selbst fühle mich aber nicht anders als vorher. Heinz Strunk hat auf eine ähnliche Frage mal mit einem Zitat von Botho Strauß geantwortet: „Der Mensch kommt fertig gestimmt zur Welt.“ Besser kann man es nicht sagen.
Wie gefällt Ihnen die Verfilmung von „Mittagsstunde“, die jetzt zu sehen ist?
Hansen: Ich finde sie wunderbar, kann Regisseur Lars Jessen und allen Mitwirkenden nur danken – und allen nur raten, ins Kino zu gehen. Es lohnt sich!
Wie stark fühlen Sie den Druck, weiter zu den wirklich vielgelesenen Autorinnen und Autoren zu zählen?
Hansen: Ach, mir reicht schon der Druck, den ich mir selbst beim Schreiben mache. Bisher musste ich noch keinen Flop verkraften. Nach einem Misserfolg ein neues Buch zu schreiben, das muss ein richtig harter Druck sein.
Sie sind auch, gewissermaßen, eine Influencerin. Norddeutsche Folklore ist immer eine inhaltliche Spur Ihrer Prosa. Vielleicht werden wegen Dörte Hansen künftig süddeutsche Kinder Ryckmer oder Eske heißen.
Hansen: Das will ich stark hoffen! Wir brauchen auch noch viel mehr Ingwers und Gönkes.
Ihre Romanfigur Eske ist üppig tätowiert. Und sie hört Metal. Nach Tattoos frage ich Sie nicht, aber nach dem anderen. Hören Sie gerne Metal, Frau Hansen?
Hansen: Ich würde jetzt sehr gern ja sagen – und dann in einem „Cannibal Corpse“-T-Shirt auf Lesereise gehen. Aber ehrlich gesagt: Nein.