Hamburg. Der Roman „Ozelot und Friesennerz“ ist ein nostalgisches, durchaus kritisches Buch über das Aufwachsen auf Hamburgs Lieblingsinsel.
Niemals, schreibt Susanne Matthiessen, können man voraussagen, in welchem Ton sich das Meer zeigt. „Unser Meer“, so nennt sie es. Also: „Unser Meer ist in seiner Farbauswahl ziemlich launisch.“ Tiefblau ist die Nordsee auch dort, wo sie an Sylt grenzt, aber leider selten. „Und man kann niemals voraussagen, in welchem Ton es sich zeigt“, erklärt Matthiessen.
Man müsse immer persönlich hingehen und es mit eigenen Augen sehen. Manchmal sei es „schwarz wie die Nacht“, manchmal entscheide es sich für Gletschergrün. „Aber am häufigsten habe ich es grau gesehen“, resümiert Matthiessen, „Grau mit Weiß“.
Die Nordsee ist meistens grau, wer würde das bestreiten? Das ist ihr Merkmal, es macht sie und ihre Inseln weniger lieblich als die Meere in südlichen Gefilden. Und doch wird sie gemocht, für ihren rauen Charme. Und natürlich auch für ihre Sommer. Besonders die Sommer auf Sylt sind da zu nennen. Um Sylt geht es Susanne Matthiessen hauptsächlich. Um Sylt, das Naturwunder. Oder prosaischer: den Sandhügel im Meer. Die Lieblingsinsel der Deutschen und der Hamburger sowieso.
„Ozelot und Friesennerz. Roman einer Sylter Kindheit“
Sylt ist der Ort unserer Sehnsucht, Projektionsfläche, Klischee – und Heimat. Oder vielleicht besser gesagt: längst verlorene Heimat, denn auch in der Nordsee kommt der Zeitgeist in Wellen. Und fegt über das Gewohnte, Liebgewonnene, das Prägende hinweg. „Ozelot und Friesennerz. Roman einer Sylter Kindheit“ heißt das erstaunliche Buch der Berliner TV-Journalistin Matthiessen. Es ist, weil es um das Aufwachsen der Autorin geht, ein schwer nostalgisches Buch. Einerseits.
Weil Matthiessen, die 1963 in der vor einigen Jahren geschlossenen Geburtenstation in Westerland geboren wurde, neben allgemeinen Betrachtungen wie denen der Farbe des Meeres viele aufregende, jugendbefeuerte und unbedingt auch kuriose Erinnerungen zusammenträgt. Sie können nur an diesem Ort und in dieser Zeit stattgefunden haben, auf Sylt in den 1970er-Jahren, als sie in Westerland, Kampen und List so richtig anfingen, Geld zu verdienen.
Zum Podcast: Von Sylter Kindheit bis zum Leben als Hochstapler
Womit Matthiessen, die sich beim Schreiben, erfreulicherweise, selten bremst, bei ihrem zweiten, vielleicht eigentlichem Thema ist: dem Wandel hin zu fast ausschließlich pekuniären Interessen, der viele Menschen in diesem zwiespältigen Paradies vor der Nordseeküste anleitet. Neben die Nostalgie tritt die Anklage, und die erwähnte, mittlerweile geschlossene Geburtenstation ist nur ein Posten auf der Verlustrechnung.
Matthiessen widmet ihr Buch den „Inselkindern“, die hier geboren wurden. Sie dürfen Exklusivität beanspruchen, zumindest in Matthiessens Augen, deren Blick auf mehr als 50 Jahre Syltgeschichte – die Jahre also, die sie selbst erlebt hat – natürlich auf ihre eigene Generation fixiert ist.
Der Ausverkauf Sylts und größenwahnsinnige Hotelprojekte
Andererseits also hat man es bei diesem merkwürdigen und letztlich aber doch schlüssigem Buch mit Trauer und Wut zu tun. Diese Seite ihrer Sylt-Gefühle bringt die langjährige Kolumnistin der „Sylter Rundschau“ in einem Prolog und einem Epilog unter, in dem sie über den Ausverkauf Sylts, größenwahnsinnige Hotelprojekte und das Fremdwerden in der Heimat lamentiert. Größtenteils zu Recht, übrigens; der Einfall des großen Geldes in die kleine Heimat bringt selten nur Vorteile.
Das Sylt, auf dem in diesem Corona-Sommer vielleicht eine gar nicht so andere Stimmung herrschen wird und bei dem wegen des Andrangs dennoch noch mehr Urlauber als sonst in die Röhre gucken (jetzt wollen ja wirklich alle hin), das Sylt von heute ist ein anderes als das von vor 40 Jahren. Heute sind die Appartements standardschick und von der Sommerfrischenstange, aber nie billig.
Damals, als der „Fremdenverkehr“, wie man damals noch häufiger als heute sagte, noch auf einem anderen Niveau war, vermieteten die Einheimischen ihre Privatwohnungen und logierten während der Saison im Keller, auf dem Dachboden oder im Wohnzimmer. Beinah jeder machte das so. Der Job der Kinder im Sommer war: niemandem und insbesondere nicht den Eltern auf die Nerven zu fallen und sie nicht beim Geldverdienen zu stören.
Selbst der Klempner konnte damals auf Sylt reich werden
Es waren Sommer der Anarchie, in denen die Kinder und Jugendlichen sich selbst überlassen waren. Heute findet man auf Sylt kein Personal mehr, weil sich kein Normalverdiener die Insel mehr leisten kann. Damals brauchte man oft kein Personal, der Vorteil der Zimmervermietung, bei der die Hausherrin selbst wusch und die Marmelade auf den Tisch stellte.
Selbst der Klempner konnte damals auf Sylt reich werden. Matthiessen berichtet vom Syltsommer als fortdauernder Party, in dem Moralvorstellungen außer Kraft gesetzt waren, gesoffen wurde, bis der Arzt kam, und der Abfluss mit allem Feierzinnober verstopfte, der Nacht für Nacht anfiel. Die Einheimischen waren Zaungäste dieses gottlosen Treibens. Aber sie gehörten zur Familie – als Dienstleister, die immer zur Verfügung stehen mussten, gerade wenn die betuchten Gäste etwas brauchten oder einfach plaudern wollten.
Oder einen Pelz kaufen wollten. Susanne Matthiessen entstammt einer Kürschnerdynastie, und von dieser erzählt sie ausführlich in diesem Buch, das ja den Haupttitel „Ozelot und Friesennerz“ trägt. Die Matthiessens waren schon vor dem Zweiten Weltkrieg den Schönen und Reichen der Republik ein Begriff.
Und bei ihnen kauften später dann, als sich die kleine Susanne, die in ihren Erinnerungen überwiegend mit dem Bewusstsein des Kindes auf das Geschehen blickt, so Leute wie Herr Rebroff, Frau Horten und Herr von Bohlen und Halbach ein. Es ist das Personal einer Epoche, das es auf Sylt luxusmäßig krachen lässt. Augstein, Springer, Beitz – Matthiessen nennt sie gerne beim Namen, die VIPs, und ein wenig Tratsch ist auch dabei.
Matthiessen wird bei vielen einen Nerv treffen
Es ist ein Sittenbild der mittleren Bundesrepublik, und zu diesem gehört, als mittlerweile längst in der Mottenkiste verschwundenes oder verschämt weiterverarbeitetes Accessoire, der Pelz. Hinter dem sachlichen Ton der Chronistin, die ausführlich vom Kürschnerhandwerk berichtet, versteckt sich die Melancholie.
Es ist eine zwiespältige: Damals, als Sylt noch Sylt war, fand keiner etwas daran, Tieren aus modischen Gründen die Haut abzuziehen. Gunter Sachs übrigens liebte Sylt. Brigitte Bardot, die Anti-Pelz-Aktivistin und zeitweilig seine Ehefrau, fand es nicht so dolle.
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Matthiessen arrangiert ihre Geschichte geschickt, sie erzählt mit Lust vom schwulen Opa, von prominenten Kunden und immer wieder von den Sylter Originalen. Sie weiß um die Widersprüche der Insel und einiges darüber, was es heißt, ein Klischee produzieren zu müssen. Matthiessen wird mit „Ozelot und Friesennerz“ bei vielen einen Nerv treffen.
Gleichzeitig wird sie sich mit dem Abgesang auf dieses Sylt, das für seine Einwohner mehr ist als nur eine Ferieninsel, nicht nur Freunde machen. Darüber hinaus ist dieses Zeit- und Generationenporträt eine schöne Lektüre für alle, die Sylt seit Jahrzehnten kennen. Und die, die wissen wollen, wie es so war: in den goldenen Jahren, als Menschen im Sommer nichts Besseres zu tun hatten, als einen Pelzmantel zu kaufen.