Hamburg. Der Band „Sylt literarisch“ enthält Texte von Thomas Mann, Max Frisch, Benjamin Lebert und anderen Autoren. Die Natur inspirierte alle.
Unter all den Menschen, die Sylt über viele Jahrzehnte, ja Jahrhunderte angezogen hat, ist eine erkleckliche Zahl von Schriftstellern. Sie haben der Insel Girlanden umgehängt, wortmächtige Beschreibungen des Meeresglücks.
Der Hamburger Literaturwissenschaftler Werner Irro hat die Schätze jener dichterischen Inselerkundungen in dem neuen Band „Sylt literarisch“ zusammengetragen. Das Buch tritt unter anderem den Beweis an, dass irgendwann tatsächlich alle Lebewesen in der Literatur zu ihrem Recht kommen, also auch der gemeine Wattwurm.
Hamburger Abendblatt: Ich fange an mit einer Behauptung: Sie mussten nicht allzu tief im Sand buddeln, um „Sylt“ in der Literatur zu finden. Die Insel-Betreiber sind ja clever und haben den saisonalen Beruf des „Inselschreibers“ erfunden!
Werner Irro: Mich hat überrascht, wie schnell man beim Buddeln nach Texten auf die Jahre 1900 bis 1940 stößt. Damals ließ sich alles, was Rang und Namen hatte, auf der Insel sehen, die Künstler- und Intellektuellendichte muss unglaublich gewesen sein. Heute ist die Beziehung zwischen Sylt und Literatur keineswegs so eng, sieht man von den vielen Krimis oder Unterhaltungsromanen ab. Und die „Inselschreiber“ hatten das Glück, eingeladen zu werden, ohne dass sie über die Insel hätten schreiben müssen.
Max Frisch schreibt in seiner Sylt-Miniatur: „Oft hält man den Atem an, als müsse jeden Augenblick etwas Unglaubliches geschehen. (...) Eine erregende, unerlöste Stille, wie sie einem Engel vorausgehen müsste.“ Hoppla! Ist die Lieblingsinsel der Deutschen am Ende vielleicht tatsächlich auch noch spannend?
Irro: Diese Momente, in denen man den Atem anhält – ja, was geschieht da? Jede Besucherin, jeder Besucher bringt bei der Ankunft bereits viele Bilder mit, und dann passiert es, dass man doch überwältigt ist. Man steht auf einem Flecken Heide, blickt auf ein Kliff, alles könnte bekannt sein, aber man meint, diese Farben, diese Weite, dieses Meer so noch nicht gesehen zu haben. Die vielen verschiedenen Landschaften nah beieinander sind jede für sich beeindruckend.
Welche Rollen spielen denn bestimmte Sehnsüchte bei Sylt-Besingern wie Thomas Hettche, Benjamin Lebert und Peter Suhrkamp?
Irro: Ich würde da unterscheiden. Die vergleichsweise jungen Autoren Hettche und Lebert zitieren den Mythos der „Wilden Jagd“ beziehungsweise eine nächtliche Wanderung von Verliebten zu einer Sandbank im Wattenmeer, was höchst gefährlich ist. Sie zeigen: Auf der Insel ist man größeren, mächtigen Kräften ausgesetzt – vielleicht als Sehnsucht nach mehr unfrisiertem Leben, mehr Abenteuer in unserem Alltag interpretierbar? Bei Peter Suhrkamp steht ganz klar das Erleben der unerschöpflichen Natur im Vordergrund, er spricht von einer „gewaltigen Stille“, die den Menschen hellsichtig mache.
Welche Rolle spielt die Naturerfahrung in der Sylt-Literatur?
Irro: 45 Kilometer sind es von List nach Hörnum, das kann man mit einer strammen Wanderung schaffen. Und als Christian Hansen als Erster 1850 über Sylt schrieb, nahm er seine Leser auch prompt an die Hand und ging mit ihnen gemeinsam von Ort zu Ort. Das ist auch heute noch erhellend zu lesen, weil Hansen die ganze Frühgeschichte in seine Erzählung mit hineinnimmt, man erfährt dabei wirklich Neues. Wie er über das Morsum-Kliff schreibt, über das Dünenland von Hörnum oder von den verschwundenen Sylter Wäldern erzählt, das lässt uns neu sehen. Damals war die Insel ja tatsächlich noch Natur pur. Das Erstaunliche ist, dass auch der heutige Besucher diese Natur-Orte immer noch entdecken und auf sich wirken lassen kann. Die Kraft dieser Orte ist erhalten geblieben, und darüber schreiben die Autoren.
Es sind die Träume und Bedürfnisse der aus dem Binnenland Einfallenden, die Sylt seines ursprünglichen Zaubers berauben. Susanne Matthiessens Tourismus-Kritik aus „Ozelot und Friesennerz“ taucht im Band auch auf. Ist das Widersprüchliche dem Sylt-Mythos auch literarisch von Anfang an eingeschrieben?
Irro: Das beginnt meiner Beobachtung nach erst mit der Hochzeit des Sylt-Tourismus in den 1960er- und 1970er-Jahren. Jetzt wird die Insel zum übergroßen Touristenziel, das Klischee von den Reichen und Schönen entsteht. Das zieht immer mehr Menschen an, und auch das Geld. Literarisch äußert sich dies als Kritik, aber vor allem journalistisch. Neben Susanne Matthiessen habe ich ein zweites dezidiert literarisches Beispiel gefunden, Margarete Boies Roman „Dammbau“. Sie benennt darin exemplarisch, welche Frage sich der Insel und ihren Bewohnern stellt: Mit der Errichtung des Dammes 1927 gibt Sylt seine Insellage auf – und übernimmt damit alles Neue, im Guten wie im Schlechten, was vom Festland herüberschwappt. Kann man sich dem auf lange Sicht erfolgreich widersetzen? Boies Hauptfigur, ein Inselpastor, verneint das. Er will die Insulaner provozieren, sich dem Besonderen ihrer Kultur bewusst zu werden, um dieses Erbe erhalten zu können.
Es ist tatsächlich, wenn man die Texte aus verschiedenen Zeitaltern liest oder sich mit Christian Peter Hansen an die Sagenwelt erinnert, eine Gewalterfahrung, die einem entgegentritt, eine Überwältigung. Übertragen in die Gegenwart, heißt das, wie Sie schreiben: „Sylt erregt.“ Hat dieses Flirren, das angesichts des tosenden Meeres auch ein Ausgeliefertsein ist, zu hochklassiger Literatur geführt?
Irro: Literarisch hat es zu einer Tendenz geführt, sich seiner individuellen Situation gewahr zu werden. Die Überwältigung muss ja irgendwohin. Bei Wilhelm Raabe ist es ein rechtschaffener Jurist, der sein bisheriges Leben infrage stellt. Alfred Kerr spürt, dass ihm der „Hauch des Alls“ aufs Butterbrot geschmiert werde. Max Frisch haben Sie schon zitiert. Für mich sind es solche Sätze, Einsichten, die formuliert werden, literarische Verdichtungen, die große Literatur ausmachen. Dafür sind die Sylt-Texte Fundgruben.
Welche überraschenden Entdeckungen haben Sie bei Ihrer Sylt-Tournee durch die Literaturgeschichte gemacht?
Irro: Ich nenne mal drei. Julius Rodenberg besuchte als junger Journalist 1859 Sylt. Sein Tagebuch von damals zeigt uns die Insel in seiner ursprünglichen, einsamen Gestalt. Man fühlt sich beim Lesen 160 Jahre zurückversetzt. Oder Victor Auburtin: Er reiste 1921 per Zug und Schiff auf die Insel. In seiner kleinen Reise-Geschichte wird ein großartiger Feuilletonist sichtbar, der völlig vergessen ist. Oder ein Autor der unmittelbaren Gegenwart: Uwe Kolbe hat als Inselschreiber einen Gedichtzyklus verfasst, „Sylter Medaillons“. Die acht Gedichte fangen das Erlebnis Sylt faszinierend ein.
Warum tauchen denn nur drei weibliche Autoren in Ihrem Buch auf?
Irro: Ich habe wirklich lange nach Texten von Frauen gesucht, vergeblich. Das Inselschreiber-Stipendium wurde an genauso viele Autorinnen wie Autoren verliehen, aber Sylt-Texte entstanden dabei wenige. Ich stelle mal eine steile These auf. Nehmen Sie Thomas Manns tollen Satz: „An diesem erschütternden Meere habe ich tief gelebt.“ Würde eine Frau einen solchen Satz schreiben? So selbstbewusst, selbstbestätigend, auch Stolz klingt dabei durch, ebenso wie eine Spur Exhibitionismus – das ist doch ein sehr männlicher Ton. Auf und über Sylt schreiben viele Autoren in einem solch ergriffenen Ton, und ich meine das keineswegs abwertend, sondern charakterisierend.
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Wird der überzeugte Sylt-Fan in dieser Zusammenstellung Aha-Momente erleben, wird er seine eigenen Projektionen in der Literatur wiederfinden – oder wird sein Blick künftig ein völlig neuer sein?
Irro: Ganz bestimmt lernen auch Sylt-Fans neue Seiten ihrer Insel kennen. Die Texte sind ja großenteils Ausflüge in vergangene Zeiten, die uns die Gegenwart anders sehen lassen. Literatur-Interessierte werden Autoren finden, die sie nicht oder vielleicht nur dem Namen nach kannten. Und in manchen Geschichten könnte der Fan durchaus seinen Projektionen begegnen, sie aber auf den Kopf gestellt sehen, siehe die Romane von Margarete Boie oder Susanne Matthiessen.
Der Österreicher Franzobel macht in seinem Sylt-Text „Dichter in Dünen“ eine Entdeckung, die jeder sehende Insel-Besucher macht: das totale Durcheinander der Standkorbnummern. Ein „geheimes syltisches Prinzip, Friesenmathematik“ konstatiert er und vermutet die Chaostheorie am Werk. Herrliches Gedankenstück! Welche ist Ihre Lieblingsstelle in diesem literarischen Kompendium?
Irro: Spontan hätte ich gesagt: Franzobel ist eine echte Überraschung. Dann sind wir jetzt schon zwei, denen dieser frische, wilde Text gefällt. Niemand schreibt so wunderbar über den Wattwurm mit seinen Spaghetti-Sandhäufchen wie Franzobel.
Wo rangiert Sylt in der Rangliste der am meisten bedichteten deutschen Urlaubsinseln, ausgenommen die einschlägige, kulissenhafte Herzschmerzunterhaltung à la „Das Glück zwischen den Dünen“?
Irro: Wie eingangs gesagt: Die berühmtesten Schriftsteller, Künstlerinnen und Intellektuellen waren in den 1920er-Jahren alle auf Sylt, das wird eine andere Insel schwerlich toppen können. Heute findet das verschwiegener statt, aber ich weiß von vielen Autorinnen und Autoren, die häufig und gern auf Sylt sind.