Jeder von uns hat sie. Jedem bedeutet sie etwas, jeder geht anders damit um. Erinnerung wird verdrängt, ihr wird nachgegrübelt, mit ihrer Hilfe sich weiterentwickelt. Auch in der Literatur ist sie Thema - und findet ihre Symbole.

Die ewige Illusion, dass dasLeben noch vor einem liege. Das Leben liegt immer hinter einem." Das schreibt Wilhelm Raabe am 20.5.1881 als 50-Jähriger. Wenn ich seinem Gedanken folge, dann ist der Blick zurück unverzichtbar, um überhaupt dem eigenen Leben auf die Spur zu kommen. Nur wer sich wahrheitsgemäß erinnert, das heißt vollständig, sagt die Psychoanalyse, der kann sich frei entfalten. Nur wer sich gut erinnert, das heißt ehrlich, sagt die Ethik, der kann verantwortlich handeln. Was sagt die Literatur zur "Erinnerung"? Auf was stoße ich, wenn ich Figuren dabei beobachte, wie sie sich erinnern?

Für die Literatur mit dem Thema "Erinnerung" steht an erster Stelle Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" von 1912. Ich stelle gleich daneben einen der deutschen Klassiker des 19. Jahrhunderts: Raabes Erstling "Die Chronik der Sperlingsgasse" aus dem Jahr 1856, der immer noch zu den meistgelesenen deutschen Büchern gehört. Allerdings nicht deshalb werde ich meinen literarischen Erinnerungsreigen mit Raabe eröffnen. Er hat seine Chronik fast 60 Jahre vor Proust geschrieben und entwickelt dabei bereits jene assoziative Erzähltechnik, die dann mit Proust, Joyce und Virginia Woolf am Anfang des 20. Jahrhunderts die Moderne begründet: den Bewusstseinsstrom. Raabe als 22-jähriger Student schreibt außerdem mit einer Einfühlung in seinen 70-jährigen Helden Wacholder, die erstaunlich für einen so jungen Menschen ist. Das 19. Jahrhundert hat eine Reihe großer Literatur geschaffen, die wie Raabe eine sich erinnernde Figur in den Mittelpunkt rückt: Novalis' "Heinrich von Ofterdingen", Kellers "Der grüne Heinrich", Eichendorffs "Aus dem Leben eines Taugenichts" und Stifters "Nachsommer". Aber nur Raabe beleuchtet den Prozess der Erinnerung selbst. Deshalb beginne ich mit diesem Werk.

Erinnern ist Erzählen Und das schreibt der 70-jährige Hans Wacholder auf den ersten Seiten seiner Chronik: "Ich bin alt und müde; es ist die Zeit, wo die Erinnerung an die Stelle der Hoffnung tritt. (...) Aus der dämmerigen Nacht des Vergessens taucht es auf und klingt es; Gestalten, Töne, Stimmen, die ich kannte, die ich vernahm, die ich einst gern sah (...); tote, begrabene Frühlinge fangen wieder an zu grünen und zu blühen; vergessener Kindermärchen entsinne ich mich; ich werde jung und - fahre auf und - erwache! Versunken ist dann die Welt der Erinnerung, mich fröstelt in der kalten, traurigen Gegenwart (...). Sie zu bannen schreibe ich die folgenden Blätter."

Wacholders über alles geliebte Pflegetochter ist gerade auf ihre lange Hochzeitsreise gegangen, deshalb ist er so bedrückt. Doch seine Klage darüber hält er kurz, obwohl er als 70-Jähriger im 19. Jahrhundert nicht mehr viel Neues vor sich haben wird. Was sich für ihn dagegen mit klaren, harten Strichen abzeichnet sind Verlust, Trauer, Einsamkeit. Nicht so sehr aus diesen Gefühlen heraus, sondern eher entgegen diesen Gefühlen nun erinnert sich Wacholder. Und er erinnert sich nicht einfach so vor sich hin, sondern er schreibt seine Erinnerungen auf: Er erzählt das, was er einst erlebt hat, noch einmal neu, ordnet sein Erlebtes und gibt ihm dadurch auch Sinn.

Raabe wählt den Efeu in diesem Roman als Motiv für die Erinnerung. Efeu wächst im Wald genauso wie an städtischen Häuserwänden, er gibt sich mit kargem Boden zufrieden, grünt sommers wie winters, benötigt kaum Licht und kaum Wasser. Erinnerung ist dementsprechend in der Chronik etwas, das wenig benötigt, jedoch jederzeit und fast unter allen Umständen abrufbar ist. Wie der Efeu begrünt und schmückt die Erinnerung das Leben.

Wacholder schreibt, er wolle die "kalte, traurige Gegenwart bannen". Er wirft seine Erinnerungen wie einen Bann, wie einen Zauber über seine Gegenwart: Er ist damit dem Augenblick entrückt.

Entrückung oder die innere Reise Wenn ich mir - einmal ganz abgesehen von der Figur Hans Wacholders - jemanden vorstelle, der sich erinnert: Dann steht dieser Jemand vielleicht vor mir, doch er sieht mich nicht. Seine Augen sind nach innen auf Vergangenes gerichtet, das nur er sehen kann. Wacholder schreibt, er "entsinne" sich. Das heißt, er richtet seine Sinne nach innen und ins Vergangene. Dank der schönen oder traurigen Erinnerung kann er die Gegenwart für den Augenblick vergessen und sich auf diese Weise stärken durch das, was einst geschehen ist, für das, was jetzt geschieht. Bei Wacholder klappt es mit dieser Stärkung. Zum Beispiel bei Goethes Werther klappt es nicht. Erinnerungen können Kraft geben, sie können aber genauso gut schwächen.

Das Wort "erinnern" stammt ab vom mittelhochdeutschen "(er)innern, inren" und ist abgeleitet vom althochdeutschen Raumadjektiv "innaro", was bedeutete "der Innere, Innerer". Ursprünglich bedeutete "erinnern": "machen, dass jemand etwas inne wird". "Etwas inne werden" heißt, genau wahrzunehmen und aufmerksam zu sein für ein Geschehen. Erinnerung ist der Ortswechsel eines Geschehens vom Außen ins Innen: So verinnerliche ich etwas.

Wacholder spricht ebenfalls davon, dass er sich "entsinne". Das Verb "entsinnen" ist im Gegensatz zu "erinnern" rein aktiv. Die älteste Schicht des Wortes "sinnen" ist zweideutig und trägt einerseits die Bedeutung "reisen, sich begeben", andererseits "beabsichtigen". Folgen wir dem Wort "entsinnen" mit diesen früheren Bedeutungen, dann hängt die äußere Bewegung der Reise zusammen mit der inneren Bewegung des Denkens. Wahrscheinlich hat das Verb "entsinnen" nur die Aktivform, weil ich mich bewusst dafür entscheiden muss, wenn ich mich "entsinnen" will - so wie ich mich bewusst dafür entscheide, eine Reise zu unternehmen. Für eine Erinnerung dagegen bedarf es solcher Entscheidung nicht. Sie kann zu mir kommen mit dem Duft des Lindenblütentees und mich überwältigen - ob ich das nun will oder nicht.

Der 70-jährige Wacholder schreibt sich mit seiner Chronik jedoch nicht nur hinein in sein Innen, sondern eröffnet sich darin auch noch einmal die äußere Welt. Denn er verbittert nicht über Verlust und nahen Tod, sondern wird über der Arbeit an seinen Lebenserinnerungen dankbar und weise. Oder war er schon vorher dankbar und weise? Der 23-jährige Werther dagegen schreibt sich in seinen Tod hinein, von allem Äußeren immer haltloser fort in ein haltloses Innen. Diese beiden Figuren - der Werther der Empfindsamkeit des späten 18. Jahrhunderts und der Wacholder des aufkommenden Bürgertums der Mitte des 19. Jahrhunderts - stellen die Eckpfeiler dessen dar, was Erinnerung kann: Erinnern für das Leben - erinnern gegen das Leben.

Erinnerung ist wie der, der sie hat Das Gegenteil vom Erinnern ist das Vergessen. Derjenige, der sich nicht erinnern will, obwohl er es könnte, ist jedoch nicht vergesslich, sondern er verdrängt. Werther ist ein meisterhafter Verdränger. Goethes berühmter Erstling "Die Leiden des jungen Werthers" des Jahres 1774 ist die Geburtsstunde des deutschen Romans. Goethe schreibt ihn mit 25 Jahren, und das Ganze ist halb biografisch.

Hören wir Werther in seinem ersten Brief an seinen Freund Wilhelm: "Waren nicht meine übrigen Verbindungen recht ausgesucht vom Schicksal, um ein Herz wie das meine zu ängstigen? Die arme Leonore! Und doch war ich unschuldig. Konnt ich dafür, dass, während die eigensinnigen Reize ihrer Schwester mir eine angenehme Unterhaltung verschafften, dass eine Leidenschaft in dem armen Herzen sich bildete! Und doch - bin ich ganz unschuldig? Hab ich nicht ihre Empfindungen genährt? (...) O was ist der Mensch, dass er über sich klagen darf! Ich will, lieber Freund, ich verspreche dir's, ich will mich bessern, will nicht mehr ein bisschen Übel, das uns das Schicksal vorlegt, wiederkäuen, wie ich's immer getan habe; ich will das Gegenwärtige genießen, und das Vergangene soll mir vergangen sein."

Werther floh aus dem Dreieck zwischen Leonore, deren Schwester und ihm: Er hatte seinen Spaß dabei, aber mindestens Leonore litt ernsthaft. Als ihm das klar wird, nimmt er heimlich Reißaus und lässt zwei höchst betretene Schwestern zurück nebst seinem betretenen Freund Wilhelm, dem er nun schreibt. Das Verblüffende und gleichzeitig Brillante von Werthers Rückbesinnung ist die gedankliche Volte, die er dabei schlägt. Wie erinnert er sich?

Sein Schuldbekenntnis oder auch seine Verantwortungsübernahme - "bin ich ganz unschuldig? Hab ich nicht (...)" - wird schnell abgelöst durchs Philosophieren: "O was ist der Mensch, dass er über sich klagen darf!" Schwupps, wird dabei Werthers Menschsein zur Rechtfertigung seines Verhaltens: Menschen sind nun einmal so, und Schicksal ist Schicksal. Was kann man da machen - meistens gar nichts. Werther weicht seiner Verantwortung aus. Denn es wäre durchaus für ihn möglich, sich auch noch nachträglich bei Leonore zu entschuldigen. Doch dreht er außerdem in seiner Rückschau die eigentlichen Gegebenheiten um: Der Schmerz, den er Leonore zugefügt hat, wird dabei erstaunlicherweise Anlass zu seiner Klage über sein Schicksal. Letztlich bemitleidet er sich nur selbst "und das Vergangene soll mir vergangen sein". Werther schaut nicht genau hin, sondern verwischt lieber mit großer Geste das eigentliche Geschehen.

Als Symbol dieser Verantwortungsverweigerung kann in diesem Roman der gefällte Baum gelten - im übertragenen Sinn der von seinen Wurzeln abgeschnittene Mensch. Erinnerung, gerade im Sinn von Mitempfinden und Verantwortung, ist eine wichtige Form sozialer Verwurzelung. Ohne sie bleibt nicht nur die literarische Figur seicht und unverbindlich, vor allem lernt ohne sie niemand dazu. Werther jedenfalls wird auf diesem Weg wieder in das geraten, woraus er gerade geflüchtet ist: eine Dreiecksbeziehung. Auch in diesem zweiten Dreieck wird er keine Verantwortung übernehmen und mit Gefühlen spielen, allerdings diesmal vor allem mit seinen eigenen. Es wird ihn das Leben kosten. Werthers Art, sich zu erinnern, spiegelt sein Dilemma von Anfang an: Seine Selbstkritik ist eine Posse, genau wie sein Mitempfinden. Wer sich so erinnert, wer so über sich nachdenkt, kommt nicht weiter in der eigenen Entwicklung, und sei er auch erst 23 Jahre alt. Wer sich dagegen erinnert wie Hans Wacholder, entwickelt sich noch in hohem Alter weiter.

Erinnerung ist Prozess Ich möchte die wohlbekannte Stelle aus Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" mit dem Lindenblütentee und der Madeleine einmal von der Hirnphysiologie aus beleuchten. Mein Augenmerk gilt dem darin zutage tretenden Zusammenspiel von Erinnerung und Geruch. Heute wissenschaftlich nachgewiesen als Ort dieses Zusammenspiels ist der sogenannte "piriforme Cortex", eine Relaisstation zwischen Großhirn und Nase. Heute sind wir dessen sicher, was Autoren wie Proust und Raabe längst beschrieben haben: Wir speichern Erlebtes nicht als komplettes Paket ab, sondern legen in unserem Hirn an verschiedenen Orten Teile davon ab. Diese Teile werden unter bestimmten Bedingungen wieder zusammengeklaubt: Das ist der Akt der Erinnerung mithilfe des Gedächtnisses, bei dem wir deshalb auch so flexibel sind. Die volle Erinnerung an etwas Erlebtes mit den dazugehörigen Gefühlen und allen Sinneseindrücken ist nicht einfach da, sondern sie entsteht, sie wird im gegebenen Fall von unserem Gedächtnis neu hergestellt. Das ist es, womit die Psychoanalyse arbeitet: Erinnerungen werden stärker und reichen tiefer, je mehr ich mich damit beschäftige. Für diesen Prozess der Entfaltung von Erinnertem hat Proust ein wunderbares Bild gefunden. Es findet sich gleich im Anschluss an die berühmte Stelle mit Lindenblütentee und Madeleine: "Und wie in den Spielen, bei denen die Japaner in eine mit Wasser gefüllte Porzellanschale kleine, zunächst ganz unscheinbare Papierstückchen werfen, die, sobald sie sich vollgesogen haben, auseinandergehen, sich winden, Farbe annehmen und deutlich Einzelheiten aufweisen, zu Blumen, Häusern, zusamenhängenden und erkennbaren Figuren werden, ebenso stiegen jetzt alle Blumen unseres Gartens und die aus dem Park von Monsieur Swann, die Seerosen auf der Vivonne, die Leutchen aus dem Dorfe (...), alles deutlich und greifbar, die Stadt und die Gärten auf aus meiner Tasse Tee." Raabe beschreibt denselben Prozess folgendermaßen: "(...) es war doch so süß, wenn der Blick an irgendeinem Gegenstand meines Zimmers, dort an jenes kleine leere Messingbauer, an jenen Sessel vor dem Nähtischchen, an ein altes Blatt, eine vertrocknete Blume, eine bunte Zeichnung in meiner Mappe sich festhing und allmählich eine Erinnerung nach der andern aufstieg und sich blühend und grünend darumschlang." Was sich in beiden Zitaten findet, ist das Lebendigwerden des Erinnerten. Ich komme auf dieses Lebendigwerden noch einmal zurück.

Erinnern ist Wiedererkennen Einer anderen Art der unwillkürlichen Erinnerung begegnen wir im Jahr 1924 in Thomas Manns "Der Zauberberg". Hans Castorp ist unsere erste nicht schreibende Figur, er ist also seinem gegenwärtigen Erleben ganz hingegeben. Er wandert im Hochgebirge und entdeckt eine Ruhebank an einem rauschenden Bach. "Aber kaum hatte er sich's bequem gemacht, als ein Nasenbluten ihn so plötzlich befiel, dass er seinen Anzug nicht ganz vor Verunreinigung schützen konnte (...). So blieb er liegen als endlich das Blut versiegte - lag still, (...). Da fand er sich auf einmal in jene frühe Lebenslage versetzt, die das Urbild eines nach neuesten Eindrücken gemodelten Traumes war, den er vor einigen Nächten geträumt ... Aber so stark, so restlos, so bis zur Aufhebung des Raumes und der Zeit war er ins Dort und Damals entrückt, dass man hätte sagen können, ein lebloser Körper liege hier oben beim Gießbache auf der Bank, während der eigentliche Hans Castorp weit fort in frühester Zeit und Umgebung stünde, und zwar in einer bei aller Einfachheit gewagten und herzberauschenden Situation."

Sie entsinnen sich vielleicht, wessen Hans Castorp sich hier erinnert: seines einstmaligen Mitschülers und seiner Schulliebe Pribislav Hippe mit den schief geschnittenen, blaugrauen oder graublauen Augen. Und Madame Chauchat ähnelt jenem Pribislav Hippe auffällig, diese Madame Chauchat hier oben auf dem Zauberberg, in der jungmännischen Gegenwart Hans Castorps. Ja, das wird Hans nun klar. Darüber hinaus allerdings erwartet ihn auf seiner Bank noch etwas anderes: Einsicht ins Geheimnis des Menschenlebens und dessen Zeit. Er kommt nämlich dank der ihm aufgegangenen Ebenbildlichkeit des Schuljungen und der Weltdame zu einem höchst verwunderlichen Schluss: "Ist es vielleicht so, dass ich wegen meines Interesses an Madame Chauchat jetzt mich darum damals so für Hippe interessiert?"

Hans vertauscht die alltägliche Ereignisfolge mit seiner träumerischen, gleichwie zeitlosen: Das, was damals auf dem Schulhofe geschah, ist nun eine Folge dessen, was jetzt auf dem Zauberberg geschieht. Dieses zunächst scheinbar unsinnige Zeitverkehren verweist auf zwei Grundgedanken des Mann'schen "Zauberbergs": Dass die Zeit anders ist, als wir uns das gemeinhin alltäglich denken, und dass Erinnerung Erkenntnis sei. Die platonische Anamnesis, die Rückerinnerung an die eingeborenen Ideen, kommt hier bei Thomas Mann zu ihrem Recht: Danach ist alles Wahre nur als Rückkehr eines Urgeprägten, als Wiederholung in der Zeit begreifbar. Pribislav Hippe genau wie Clawdia Chauchat sind Verfleischlichungen eines vorgeburtlichen Urbildes, das Hans im Blute liegt - sein Nasenbluten spielt poetisch darauf an. Hans Castorp begreift ein Geheimnis seiner Existenz, nämlich die schicksalhafte Unmöglichkeit beider Lieben, die ihm so sehr im Blute liegen: die zum gleichaltrigen Knaben Pribislaw einst und die zur verheirateten, todkranken und 15 Jahre älteren Clawdia jetzt. Dass Hans aber dennoch liebte und liebt, genau das wird andererseits seine Initiation in die Mysterien des Zauberbergs ermöglichen.

Erinnern ist Erfinden Einer Erinnerungsart möchte ich abschließend noch die Ehre erweisen: der Lebensbeichte. Sie begegnet uns in Monika Marons "Animal Triste" aus dem Jahr 1996. Schauen wir auf den Anfang dieses monologischen Romans: "Jetzt bin ich hundert und lebe immer noch. (...) Ich treffe niemals Bekannte, bin aber nicht sicher, ob ich sie überhaupt wiedererkennen würde. (...) Mein letzter Geliebter, um dessentwillen ich mich aus der Welt zurückgezogen habe, hat, als er mich verließ, seine Brille bei mir vergessen. (...) Ich erinnere mich an meinen Geliebten genau. (...) Nur seinen Namen und warum er mich verlassen hat, habe ich vergessen."

Diese Hundertjährige lebt so, dass sie nichts Neues mehr zulässt. Innerlich ist sie bei ihrem Geliebten, wartet sie auf ihn. Sie hält damit Abstand zur Welt und lässt jenen erlebnisleeren Raum entstehen, in den sie immer wieder ihre Erinnerung einströmen lässt. Sie ist wie Werther dabei in sich selbst verschüttet. Marons Figur allerdings ist sich dessen bewusst: "Im Laufe der Jahre habe ich gelernt, mich an das, was ich vergessen will, nicht zu erinnern. (...) Ich weiß nicht, wie man heute darüber denkt, aber vor vierzig oder fünfzig Jahren, als ich noch mit den anderen Menschen lebte, galt das Vergessen als sündhaft, was ich schon damals nicht verstanden habe und was ich inzwischen für lebensbedrohlichen Unfug halte. (...) Den Abend vor vierzig oder fünfzig Jahren, an dem mein Geliebter mit geradem Rücken an die Wand gelehnt und von fleischfressenden Pflanzen umrankt in meinem Bett saß, erfinde ich, seit er vergangen ist, wie alle anderen Abende mit meinem Geliebten auch. So vergeht die Zeit und vergeht doch nicht."

Diese Figur "erfindet" alle Abende mit ihrem Geliebten immer wieder neu. Dies ist eine Art der Zeit-Versiegelung. Aber nicht wie bei Hans Castorp auf dem Zauberberg eine Versiegelung zur inneren Steigerung, sondern diesmal als reines Haltbarmachen, als Konserve: "So vergeht die Zeit und vergeht doch nicht." Warum eigentlich? Warum verhält sich Marons Figur so lebensabgewandt, und zwar über Jahrzehnte hin? Erst ganz am Schluss des Romans wird klar, dass dieser Monolog eine Art Lebensbeichte ist, und aus diesem Grund gehört er in meinen Erinnerungsreigen. Nur ist er keine echte Beichte, denn die Erzählerin bleibt allein.

Was hier konserviert wird, ist jedenfalls nicht so sehr eine große Leidenschaft, sondern eben eine große Schuld. Wir lesen auf der letzten Seite: "(...) ich habe Franz getötet. Jetzt muss ich es wieder wissen. Vielleicht habe ich die vielen Jahre nur auf ihn gewartet, um das nicht wissen zu müssen. Es ist vorbei. Mich hält nichts mehr wach. Die paar Schritte auf meinen Platz zwischen den fleischfressenden Pflanzen schaffe ich noch. Ein fremder Wind streift mein Gesicht (...)."

Auch diese Figur erinnert sich so, wie sie ist. Als sie alles erinnert und nichts mehr verdrängt, stirbt sie. Ihr Tod ist eine Erlösung. Für mich ist dieses Buch genauso wenig ein Liebesroman wie der Goethe'sche "Werther", sondern ein Roman über die Zerstörung von Beziehungen zugunsten einer fantasierten Liebe. Die Hundertjährige und der 23-Jährige schließen mit ihrer Art, sich zu erinnern, die Welt aus, die Mitmenschen und die Wahrheit. Erinnern ist und bleibt hier Erfinden, und der Erfinder bleibt allein. Die Figuren warnen mich davor, mich wie sie zu erinnern. Eine Erinnerung, die nicht anfängt, sich zu bewegen, wenn ich mich auf sie zu und durch sie hindurch bewege, hat ihre größte Kraft verloren - dass sie lebendig ist und von daher nicht kontrollierbar. Dieses Lebendigwerden habe ich dagegen bei Proust und Raabe genau wie bei Thomas Mann beobachtet.

Was wir wirklich haben, ist Erinnerung Für die alten Griechen war die Erinnerung eine Frauengestalt mit dem Namen Mnemosyne. Sie galt als die Mutter der neun Musen und hat damit allen Künsten und Wissenschaften das Leben geschenkt. Dies macht noch einmal von anderer Warte aus deutlich, wie grundsätzlich und wichtig Erinnerung ist. Die Grenzen der Erinnerung sind auf der einen Seite markiert durch das Dokument, auf der anderen Seite durch die Fantasie oder die Träumerei. Wer sich erinnert, will etwas bewahren. "Wahren" bedeutete im Mittelhochdeutschen "beachten, behüten". Wenn ich meine Erinnerungen achte und hüte, dann allerdings geschieht etwas mit ihnen und mit mir. Das beobachteten wir bei Hans Wacholder, Prousts Erzähler und Hans Castorp. Denn als sie sich erinnern, verändert sich ihre Wahrnehmung, und zwar sowohl des Vergangenen als auch des Gegenwärtigen. Ihre inneren Reisen zurück in die Zeit zeigen außerdem, dass Erinnern allein nicht ausreicht, um eine frühere Lebenslage tatsächlich zu sehen und zu durchschauen. Dazu bedarf es neben der Erinnerung des Entsinnens: der Ausrichtung und Öffnung aller Sinne auf das Erinnerte hin. Dann kann sich das darin oft Verborgene von uns entdecken lassen. Denn unsere unbewusste, sinnliche Wahrnehmung ist meist größer als das, was wir bewusst im Augenblick eines Geschehens erfassen. Christa Wolf drückt das in ihrer "Kassandra" so aus: "Der in die Handlung Verstrickte sieht ja nichts."

Alles, was wir erlebt haben, prägt sich uns ein. Die Fähigkeit des Erinnerns erlaubt uns, mit zeitlichem und emotionalem Abstand noch einmal auf uns selbst in einem Geschehen zu schauen. Es liegen unendliche Möglichkeiten der Erkenntnis darin verborgen.

Was wir wirklich haben, ist Erinnerung. Was wir daraus machen, liegt bei uns.