Hamburg. Der isländische Pianist, der im Oktober in der Laeiszhalle zu hören sein wird, über das Spielen und das Erwachsensein.

Die isländische Mentalität sei von Stille und Bescheidenheit geprägt, heißt es. Für Stille, Ruhe und Konzentration auf Wesentliches ist der Pianist Víkingur Ólafsson jedenfalls sehr zu haben, obwohl und weil sein Beruf auf Tönen basiert. Das Leitmotiv des Gesprächs: Spielen.

Hamburger Abendblatt: Ist es eigentlich für Sie als Pianist in Ordnung, vom Klavierspielen zu sprechen, obwohl es doch so anstrengend ist? Also lieber Klavierarbeiten?

Víkingur Ólafsson: Die Arbeit kommt zuerst, der Spaß kommt später, dann wieder Arbeit, wieder Spaß … Das ist eine endlose Spirale. Für wichtig halte ich die Erinnerung an die allererste Begegnung mit dem Klavier. Das sehe ich jetzt auch bei meinen Kindern, ich habe zwei Söhne, ein Jahr und drei Jahre alt. Wir haben einige Klaviere zu Hause, das ist eine Schwäche von mir. Ein sehr alter Steinway-Flügel steht im Esszimmer, direkt neben dem Tisch. Der Dreijährige darf immer darauf spielen. Keine Regeln, außer: keine Füße auf dem Klavier und saubere Hände, am besten mit den Fingern spielen. Ihm zuzusehen, wie er Entdeckungen macht, ihm die Mechanik zu erklären und wie ein Ton entsteht … Er versucht das alles zu verstehen, kann es aber noch nicht. Für ihn ist das Zauberei. Wenn ich Klavier spiele, versuche ich hin und wieder, all diese Regeln zu vergessen, die man uns immer wieder beigebracht hat. Ich versuche neue Wege zum Klavier zu finden. Und das geht nicht mit einer Arbeitseinstellung, das geht nur, wenn man spielt.

Víkingur Ólafsson: „Ich versuche neue Wege zum Klavier zu finden“

Sie sind Klavier-Profi, das ist Ihr Job, da gibt es Verpflichtungen. Rechtzeitig an bestimmten Orten sein. Druck. Was macht das aus der Vorstellung, Musik zu spielen?

Stimmt alles, es gibt Druck, es gibt Zeitpläne und erbarmungslose Arbeit. Irgendwo stand, ich sei auf Platz vier der aktivsten Pianisten weltweit, Ob das etwas Gutes ist, wenn man zwei Kinder hat? Da bin ich mir nicht sicher. Noch bin ich in einer Phase, in der mich das Spielen fasziniert.

Wie bewahrt man sich diese spielerische Einstellung?

Jeder ist anders. Swjatoslaw Richter hat gesagt, er könne ein Klavierabend-Programm nur etwa dreimal spielen, dann müsste er es verändern, um sich selbst bei Laune zu halten. Andere, wie Sokolov, finden es großartig, ein und dasselbe Programm vielleicht ein Jahr lang zu wiederholen. Man muss herausfinden, was einen unterhält.

Gibt es auf der Bühne überhaupt noch Zeit, um sich unterhalten zu fühlen?

Gute Frage. Damit kämpft jede Kunstform, mit der Balance zwischen Freiheit und Disziplin. Die größten Kunstwerke – Bachs Kompositionen beispielsweise – haben beides. Einerseits Mathematik, andererseits Gedichte. Und wie geht man mit dem Konzert um? Ist das ein Arbeitsplatz oder eine Plattform für Kunst? Kunst ist nicht dasselbe wie ein Büro. Aber wenn man 80, 90, 100 Konzerte pro Jahr gibt, fühlt es sich mehr und mehr so an. Meine Mutter ist Klavierlehrerin, und sie sprach mit mir immer darüber, dass jedes einzelne Konzert das Potenzial habe, das Leben verändern zu können. Etwas fast Heiliges, nichts, was man nur tut, sondern etwas, dem man erlaubt, dass es passiert.

Víkingur Ólafsson: „Wie ein Erwachsener fühle ich mich nicht“

Wie viele Instrumente genau haben Sie zu Hause?

Im Moment drei Flügel, ein weiteres Klavier von 1785, und das fünfte ist ein elektronisches Klavier, das ich gekauft habe, als meine Nachbarn verrückt wurden. Inzwischen haben wir aber ein Haus.

Fühlen Sie sich erwachsen? Sie können einfach tun, was den meisten Erwachsenen verwehrt ist – Sie verdienen mit Spielen Ihren Lebensunterhalt.

Ganz ehrlich: Wie ein Erwachsener fühle ich mich nicht. Ich bin 38, und wenn ich meine gleichaltrigen Freunde sehe, denke ich immer: Die sind so alt! Aber gleichzeitig gehe ich immer öfter zu Beerdigungen. Die Generation meiner Eltern ist um die 70. Also: Wie lange kann ich noch behaupten, ein Kind zu sein? Mein Dreijähriger sagt mir, er sei älter als ich (lacht).

Nehmen Sie mich mit in Ihre Vergangenheit. Waren Sie der freundliche, immer etwas einsame Junge, der Klavier übte, während die anderen sich draußen auf dem Fußballplatz die Nasen brachen?

Ich machte beides. Aber Nasen habe ich, soweit ich weiß, nicht gebrochen, Fußball spielte ich, bis ich 14 war. Mir kam es so vor, als ob ich wirklich gut war, das sahen aber vielleicht nicht alle so. Island hat keine große Musik- oder Klaviertradition. Es gab kein System für jemanden wie mich. Nicht einmal meine Mutter hat mich je zum Üben gedrängt. Ich wollte üben – und meine Mutter schickte mich raus zum Spielen. Wäre ich früh zum Üben gezwungen worden, wäre ich vielleicht früher besser gewesen. Andere haben mit zwölf schon Liszt-Konzerte gespielt. Das konnte ich nicht, weil ich nicht die dafür notwendige Zeit geübt hatte.

Wie lief es dann damals?

Mit zwölf, 13 habe ich morgens Zeitungen ausgetragen, das ganze Geld, das ich damit verdient habe, habe ich für Klavier-CDs ausgegeben, auch für Aufnahmen aus den 1920er- und 1930er-Jahren von berühmten Pianisten. Diesen Klang strebte ich an. Mit 18 kam ich an die Juilliard School, ich wollte so sehr in eine so große Stadt wie New York. Opernproduktionen wie an der Met hatte ich noch nie gesehen, auch keine Sinfoniekonzerte wie in der Carnegie Hall …

In New York leben in einem Straßenblock womöglich mehr Menschen als auf ganz Island …

Genau. Ich war bereit, an der Juilliard wie ein Verrückter am Klavier zu arbeiten. Damals hatte ich schon vieles ausprobiert, was vielleicht etwas illegal gewesen sein könnte. Dinge getrunken, die man mit 16 wirklich nicht trinken sollte. Aber mit 18 war ich bereit fürs Arbeiten. Im ersten Jahr habe ich alle Bartók-Konzerte gespielt und Rachmaninows Drittes, all das nachgeholt, was meine Freunde schon Jahre früher getan hatten.

Víkingur Ólafsson: „Eine Woche ohne Üben geht“

Wie lange halten Sie es ohne Üben aus?

Eine Woche geht. Das habe ich zu Weihnachten ausprobiert. Die letzten Konzerte waren mit den Berliner Philharmonikern am 21. und 22., ich kam nach Hause und fand, dass ich meinen Jungs Weihnachten schulde. Also spielte ich nicht. Und nach einer Woche merkte ich: Okay, jetzt muss ich spielen. Das war wie eine Flutwelle. Nach mehr als einer Woche werde ich sonderbar, und meine Frau mag mich nicht mehr. Sie meint, ich verspanne, und das stimmt. Manche Menschen werden „hangry“, wenn sie nichts essen. So geht es mir, wenn ich meinen Hunger auf das Klavier nicht befriedigen kann.

Wir trafen uns neulich in der Laeiszhalle, beim Konzert von Igor Levit. Sie können das noch: einfach ein Konzert genießen? Oder gibt es immer einen Feldwebel im Hinterkopf, der brüllt, dass Sie beurteilen sollen, was Sie auf der Bühne täten?

Hätten Sie mich das vor zehn oder auch nur sechs Jahren gefragt, hätte ich – wenn ich ehrlich gewesen wäre – geantwortet: Ich vergleiche mich ständig mit denen, denen ich zuhöre, und das ist gar nicht negativ gemeint. Aber jetzt bin ich nicht mehr so sehr in diesem Wettbewerb. Das war ein tolles Recital. Er hat alle Stücke anders gespielt, als ich sie spiele, ich fand es großartig und fühlte mich frei. Als das noch nicht so war, war ich viel frustrierter.

Wie wichtig sind bestimmte Orte für Sie, um ein Album einzuspielen? Einer Ihrer Lieblingsräume dafür ist das Konzerthaus Harpa in Reykjavik. Weil es fußläufig ist, oder liegt es an der Atmosphäre?

Ich kann nicht verstehen, wenn jemand behauptet, man brauche nur das Instrument und Mikrofone; und alles andere fände sich dann. Warum sollte man nicht alles nutzen, was möglich ist? Warum sollte man sich nicht um Akustik kümmern? In den anderen Bestandteilen des Aufnahmeprozesses steckt enorme Kreativität. Für mich ist der Konzertsaal wie ein Instrument. Man spielt darauf, man spielt mit dem Nachhall, das hat einen Einfluss aufs Spielen selbst. In dem Raum, in dem ich im Harpa aufnehme, kann man die Stuhlreihen ausbauen, er ist sehr neutral, eher wie eine Sporthalle, mit Vorhängen an den Seiten kann man die Akustik sehr variieren, genau so, wie man es möchte.

Víkingur Ólafsson: „Der braune Tisch hier ist ein D“

Sie sind Synästhet und „sehen“ Musik. Lässt sich das beeinflussen, kommen für Sie etwa Farben aus dem Klavier, wenn Sie spielen?

Sie tragen gerade einen Pullover, bei dem der linke Ärmel blau ist und der rechte grün mit etwas Orange. Das ist mir sofort aufgefallen. Für mich ist der linke Ärmel ein F und der grüne ein E. Das heißt aber nicht, dass ich ein E und ein F als dissonante Sekunde höre, wenn ich Sie sehe. Es geht mehr darum, wie Dinge sind. Welche Farbe hat ein klarer Himmel? Blau, da sind wir uns alle einig. Wenn Sie mich fragen, welche Farbe hat F?, ist das für mich die gleiche Antwort wie beim Himmel. Welche Farbe hat G? Bei mir Rot.

Ist das mehr eine Erfahrung oder ein Gefühl?

Ich sehe die Farben nicht körperlich, es ist eher eine sehr starke Verbindung, die für mich dieselbe Logik hat wie „Der Himmel ist blau“. Gott sei Dank also kein roter Filter über den Augen bei einem G-Akkord! Wäre das so, wäre ich längst in psychiatrischer Behandlung … Der braune Tisch hier, der ist ein D. Mein cremefarbener, off white Pullover wäre eine Art C.

Ihre Frau ist ebenfalls Pianistin, kommt es zu Hause zum Streit, wer zuerst an den Flügel darf?

Wir haben ja mehrere (lacht). Sie ist eine fantastische Pianistin, übt diesen Beruf aber nicht aus. Sie hat als Musikjournalistin beim Fernsehen und im Radio gearbeitet und ist jetzt Künstlerische Beraterin des isländischen Symphonieorchesters. Mit mir an 200 Tagen aus dem Haus und zwei kleinen Kindern hat sie leider nicht genügend Zeit für das Klavier. Aber wir haben ein Spiel zu Hause: Wann immer ich mich ans Klavier setze und Kurtágs Version einer Trio-Sonate von Bach spiele, die er für drei Hände bearbeitete, muss sie alles stehen und liegen lassen und zum nächsten Klavier laufen, damit ihre Rechte genau im richtigen Moment einsetzen kann.

Víkingur Ólafsson: „Musik muss Regeln überwinden“

Die schwierigste Frage zum Schluss: Spielen Sie Musik oder erschaffen Sie Musik?

Das könnte arrogant sein, wenn ich sage: Ich fühle mich, als ob ich Musik entstehen lasse. Denn ich spiele Bach, Mozart oder Ravel. Aber man muss sich der Musik so annähern, als ob man sie erschaffen hätte. Während der besten Momente auf der Bühne kann sich das zwar so anfühlen, doch die Wahrheit ist: Sie ist nicht von mir. Es ist wie mit dem Schauspieler, der auf der Bühne zu König Lear wird, wenn er alles richtig macht. Alle im Saal sollten spüren: Er ist Lear. Es ist nicht Shakespeare, der ihn erschuf. Mit Musik ist es genauso.

Was heißt das?

Viele sagen ja gern, man müsse sich an den Notentext halten, bescheidener Diener des Komponisten sein und so weiter. Aber haben diese Menschen mit lebenden Komponisten gearbeitet? Ich schon. John Adams, Thomas Adès, György Kurtág – sie sind so offen. Die Partitur repräsentiert etwas, und man ändert es dann eben, von einer Aufführung zur nächsten. Es ist etwas anders als im Pop. Beatles-Songs klingen im Original immer etwas besser als in Coverversionen. In der Klassik klingt es nicht zwangsläufig am besten, wenn der Komponist oder die Komponistin selbst spielt. Und es kann 300 Jahre später besser werden. Können Sie sich vorstellen, dass Beethoven heute seine Stücke brav nach den Vorgaben spielen würde, wie er sie damals geschrieben hatte? Ich glaube nicht. War er sich bewusst, was er geschrieben hatte? Aber sicher. Es war in ihm. Aber Musik muss größer sein. Sie muss Regeln überwinden – wie jede Kunst.

Aufnahme: „From Afar“. Musik von Kurtág, Brahms, Schumann, Adès u. a. (DG, 2 CDs, ca. 30 Euro). Konzert: 10.10. 19.30 Uhr. Bach „Goldberg-Variationen“, Laeiszhalle, Gr. Saal. Eine Einspielung der „Goldberg-Variationen (DG) erscheint am 6.10.