Hamburg. „Es ist jetzt eine Zeit voller Experimente, das ist gut für die Kunst“, findet Pianist Víkingur Òlafsson bei „Erstklassisch“.
Die Musterschüler-Optik, auf die er oft reduziert wird, die täuscht. Der isländische Pianist Víkingur Ólafsson ist weit weniger berechenbar, als manche glauben. Er hat Klavierstücke von Philipp Glass wieder so populär gemacht, wie sie es verdienen. Wäre die Welt eine andere, gäbe er jetzt Konzerte mit Werken seiner aktuellen Favoriten Rameau und Debussy. Doch die Welt ist, wie sie seit März ist, deswegen sprach Ólafsson per Zoom-Konferenz aus Berlin über Komponisten, Ideen, Klänge und ihre Farben.
Hamburger Abendblatt: Was macht es mit einem Konzertpianisten, wenn er wochenlang keine Konzerte spielen durfte?
Víkingur Ólafsson: Große Frage… Im März habe ich entdeckt, dass ich keine Arbeit habe. Das war ein neues Gefühl. Aber ich habe dann doch sehr viel gemacht – eine Reihe für das isländische Fernsehen, 14 kurze Episoden über Musik, mit meiner Frau, die TV-Journalistin ist. Das war alles sehr spontan. Außerdem eine Residenz-Reihe für BBC 4, eine Woche, ich sprach live mit dem Moderator in London und spielte auch live. Mehr als eine Million Zuhörer – und ich war ganz allein im Konzerthaus Harpa in Reykjavik. Es ist jetzt eine Zeit voller Experimente und das ist gut für Kunst. Kunst braucht Störungen…
… Und Sie spielten vor kurzem Griegs Klavierkonzert – Sie waren auf Island, das Orchester spielte live in Norwegen, beim Bergen Festival. Richtig live war es aber nicht: Sie haben Ihren Part vor dem Konzert aufgenommen.
Ólafsson: Das war ein sehr interessantes Experiment. Live-Konzerte sind viel besser. Letzte Woche spielte ich in Dortmund, nur für 350, 400 Menschen, aber es war eine sehr intensive Stunde. Es kommt langsam wieder, aber es kommt.
Nochmal zu Bergen: Ist das nicht wie Trockenschwimmen – Sie haben Ihren Teil geliefert, das Orchester spielte später zur Konserve. Niemand kann dann noch auf jemand reagieren.
Ólafsson: Ja, ich war sehr einsam. Es war wie ein Puzzle. Für jetzt war es gut, aber nicht für die Zukunft der Kunst.
Der Intendant des Bergen Festivals sagte in einem Interview, man solle nicht mehr die „Musik toter Komponisten balsamieren“, man müsse für Konzerte neue Formate finden. Das sagen gerade so ziemlich alle. Ist unsere Gegenwart, trotz der akuten Probleme, also auch eine gute Zeit?
Ólafsson: Ich glaube, man muss das so sehen - unglaublich schwierig, aber wir müssen positiv sein. Die größte Kunst entstand nie aus zu viel Wohlstand. Warum müssen Sinfoniekonzerte so sein, wie sie so lange waren? Warum nicht kurz, warum immer um die übliche Zeit, warum nicht später? Warum brauchen wir eine Pause, was ist am besten für das Publikum? Diese eine Stunde in Dortmund, die war kostbar. Man muss mehr Spontanität bei den Programmen haben, und nicht die Frage: Was willst Du spielen im Dezember 2023?...
Sagen Sie doch einfach, Sie spielen Klavier…
Ólafsson: … Ich weiß nicht, was ich dann spielen will. Warum soll ich das im Sommer 2020 sagen? Das ist sinnlos. Warum nicht Konzerte mit einem vorher bekannten Hauptstück? Doch wir müssen nicht alles wissen. Vielleicht ist es besser, mit offenen Ohren in ein Konzert zu gehen – vielleicht etwas Wunderschönes von Berlioz, oder Gesualdo in Kombination mit Nonsens-Madrigalen von Ligeti. Wir brauchen mehr Überraschungen im Konzert-Format.
Wir haben 2020. Alle hätten jetzt gern, im Jubiläumsjahr, Beethoven gespielt. Ging nicht. Und für Sie ist dieses Jahr Rameau- und Debussy-Jahr.
Ólafsson: Diese Jahre mit einem Komponisten, das ist für mich ein bisschen zu automatisch. Ich bin etwas müde von all diesen Beethoven-Aufnahmen. Ich liebe ihn. Aber nichts war automatisch für ihn. Er liebte Störungen.
Über Ihre Aufnahmen der Stücke von Phil Glass war zu lesen, Ihr Spiel sei „zu glatt“, „zu schön“. Kann man tatsächlich „zu schön“ Klavier spielen?
Ólafsson: Bei ihm ist es wirklich interessant, denn es gibt viele nicht so gute Pianistin, die seine Musik spielen, diese Noten sind ziemlich einfach schlecht zu spielen. Für mich sind die Strukturen so interessant, er ist ein musikalischer Architekt. Ich wollte Glass mit so viel Wahrheit und Ernst spielen, wie ich Bach oder Debussy spiele. Also: Kann man Musik zu schön spielen? Ich glaube nicht.
Sie haben in New York an der Juilliard School studiert. Und hatten dort einen sehr schlauen Trick, um auf die richtig guten Plätze in der Metropolitan Opera zu kommen: Sie haben sich einfach die Karten der Besucher organisiert, die in der ersten Pause gingen.
Ólafsson: Das war unglaublich gut, von all diesen Opern immer die zweite Hälfte zu hören. Die Ouvertüren kenne ich nicht so gut, aber die Enden um so besser (lacht). Das waren die teuersten Plätze. Die kamen nur für Kaviar, Champagner und einen Akt „Zauberflöte“, danach ging es wieder nach Hause.
Vor einigen Jahren sind Sie eine Treppe heruntergefallen, haben sich dabei aber so auf den Rücken geworfen, dass Ihren Händen nichts passierte. Haben Sie schon einmal über eine Handversicherung nachgedacht?
Ólafsson: Nein. Was sollen Hände wert sein? Wenn wirklich etwas mit meinen Händen passiert, kann kein Geld das entschädigen. Dann muss ich einen anderen Weg mit der Musik finden.
Lassen Sie uns über Ihr neues Album sprechen, das hat mich wirklich überrascht. Rameau und Debussy – der eine tief im Barock, der andere an der Tür zur Moderne, 180 Jahre Entfernung. Wie kam diese Kombination zustande?
Ólafsson: Es ist ein bisschen zu einfach, über Debussy nur zu sagen, dass er ein Impressionist ist. Das wollte er wirklich nicht sein, er hasste dieses Etikett. Seine Wurzeln sind tief im Barock. Er liebte Palestrina und kannte die Kunst der Vergangenheit so gut. Beide, Rameau und Debussy, waren Außenseiter. Rameau war ein Komponist der Zukunft, Debussy liebte ihn, das wissen wir. Und so viele Komponisten liebte er nicht. Beethoven sei ein furchtbarer Klavierkomponist, hat er einmal geschrieben... Also: zwei enfants terribles. Auf dem Album gibt es „The Arts and The Hours“, eine Bearbeitung von mir über „Entrée de Polimnie“ aus dem vierten Akt von Rameaus letzter Oper „Les Boreades“ – ein unglaublich schönes Werk, und Rameaus Harmonien haben Ähnlichkeit mit etwas, das Gustav Mahler 150 Jahre später hätte schreiben können.
Das sind Víkingur Ólafssons Lieblingsstücke:
Ravel: „Trois Poèmes de Stéphane Mallarmé“ Anne Sofie von Otter, Bengt Forsberg
Sibelius: 6 Impromptus op. 5 Leif Ove Andsnes
Thomas Adès: „In Seven Days” Thomas Adès, London Sinfonietta
J.S. Bach: „Jesu meine Freude“ BWV 227 Sir John Eliot Gardiner, The Monteverdi Choir
Rameau: „The Sound of Light” Teodor Currentzis, MusicAeterna
Mozart: Streichquintett g-Moll KV 516. Arthur Grumiaux u.a.
Gluck (arr. Sgambati): „Reigen seliger Geister” Sergei Rachmaninow
Duparc „L’invitation au voyage” Elly Ameling, Edo de Waart, San Francisco Symphony
Sie haben die Stücke auf dieser CD genau aufeinander abgestimmt, während andere höchstens sagen: Okay, Chopin-Préludes, oder Beethoven-Sonaten, fertig. Müssten sich nicht mehr diese Mühe machen? Sich gründlich einlesen und überlegen, was passt wie warum wozu?
Ólafsson: Man braucht Zeit für ein Album. Man kann nicht einfach nur aufnehmen, was man in Konzerten spielt. Das sind zwei unterschiedliche Kunstformen. Ein Album muss komponiert werden, Kontext ist alles. Inzwischen recherchiere ich für das nächste Album, seit Monaten.
Und was ist der rote Faden?
Ólafsson: Das ist mein Geheimnis. Aber es wird ganz anders als die anderen, das kann ich sagen. Man muss überraschen. Deswegen hatte ich Philipp Glass für mein DG-Debüt ausgewählt. Danach haben viele über mich gesagt, na ja, er ist Pop-Pianist. Minimal Music: sehr gut, aber er kann keinen Bach spielen. Und dann spielte ich natürlich Bach. Dann meinten viele, ich müsste danach noch ein Bach-Album einspielen. Und deswegen jetzt: Debussy und Rameau. Ein Künstler muss immer seinem Erfolg entkommen. Den kann man nie wiederholen.
Es war keine Option, Rameau historisch korrekt auf einem Cembalo zu spielen statt auf einem modernen Flügel?
Ólafsson: Das ist ein ganz anderes Instrument, eine andere Erfahrung. Das ist ein bisschen wie Geige und Bratsche. Klavier ist mein Instrument. Für mich ist Klavier mein Herz.
Sie sind Synästhet, Sie hören also Farben. Wie klingt eine Tonart für Sie, wie geht das?
Ólafsson: C ist für mich weiß, orange ist A, G wäre rot, D wäre braun, E grün, F blau, H lila… Als Kind dachte ich, jeder würde das können.
Mal praktisch: Wenn Sie einen Ton hören, nehmen Sie das wie durch getönte Gläser einer Sonnenbrille wahr? Wie meldet sich die Farbe?
Ólafsson: Das ist wirklich schwierig zu erklären, das ist tief in meinem Gehirn, glaube ich. Es ist einfach so. C ist einfach weiß. Hund ist Hund, Katze ist Katze und ich bin Víkingur.
Sie sind nicht mehr nur für interessant zusammengestellte Alben bekannt, sondern auch für Ihre Musik-Videos: Zu einem Bach-Präludium gibt es einen Kurzfilm in einer isländischen Fischfabrik, zu Rameau ein rührend melancholisches Video mit seligen Sonderlingen, die sich über ihre Flipper-Sammlung oder ihre Spielzeugroboter freuen. Diese Mühe macht sich auch nicht jeder. Wie entstehen diese Filme?
Ólafsson: Ich liebe Gesamtkunstwerke, ich liebe Dialoge mit kreativen Menschen. Die Fischfabrik, das war eigentlich meine Idee und wurde dann im Dialog entwickelt. Ein wenig dystopisch, ein bisschen wie „social distancing“. Man kann nicht immer nur Performance-Videos machen, nur spielen, schöner Raum und Make-Up und alles sieht gut aus. Das ist nicht genug. Wir brauchen größere Ideen und solche Risiken.
Dann könnte ich jetzt mal den Traditionalisten geben und entgegnen: Diese Musik braucht keine zweite Erzählebene, das ist gar nicht notwendig. Bach steht für sich, Rameau steht für sich, alles andere ist Deko und Glasur.
Ólafsson: Ja, diese wunderbaren Leute… (Pause)
Was es, zumindest auf Platte, von Ihnen noch nicht gibt: das klassische Standard-Repertoire – Mozart, Beethoven, Chopin, Schostakowitsch… Kommt das noch, oder ist es für Sie auch nicht so notwendig?
Ólafsson: Auf meinem eigenen Label habe ich früher Chopin aufgenommen, Brahms habe ich viel gespielt. Mozart war ein großer Teil meines Repertoires. Die letzten Konzerte war viel Zeitgenössisches, das letzte Konzert vor Corona war John Adams‘ neues Klavierkonzert und er dirigierte, in Paris und Amsterdam. Das war unglaublich schön. Alles hat seine Zeit, für mich ist es wichtig, mich zu konzentrieren, und für die nächsten zehn, zwölf Monate brauche ich nicht viel anderes als Debussy und Rameau. Mozart kommt, in der Zukunft, Beethoven kommt, Brahms kommt.
Kneifen Sie sich hin und wieder und sagen sich: Wahnsinn, ich bin berühmt! Finden Sie das okay oder gibt es auch Momente, in denen Sie von sich sagen: So gut bin ich eigentlich gar nicht, das hat nur noch niemand gemerkt?
Ólafsson: Man denkt immer, dass man nicht so gut ist. Aber das gilt für alle, auch für Svjatoslav Richter oder Rachmaninow. So ist Kunst. Berühmtheit ist für mich eine abstrakte Idee, darüber denke ich nicht nach.
Wie wird sich die Musikwelt nun verändern? Wird sie nach Corona eine bessere werden, oder eine andere?
Ólafsson: Etwas mehr Konzentration im Leben wäre gut. Also vielleicht eine Tournee mit 30 Solo-Konzerte ins 60 Tagen, warum nicht? Warum nicht, ein bisschen wie im Pop. Unglaublich konzentriert arbeiten und danach drei, vier, fünf Monate zuhause bleiben, um Bücher zu lesen und Neues zu entdecken. Es wird besser werden, konzentrierter und spontaner, flexibler.
Was wäre das erste Wunsch-Stück, mit vollem Haus und großem Orchester und allem wieder auf 100 Prozent?
Ólafsson: Momentan spiele ich zuhause viel Mozart. Also vielleicht das 23. oder das 24. Klavierkonzert, aber mit wem? Ich habe zu viele Träume, um nur einen Dirigenten und nur ein Orchester zu nennen. Oder vielleicht Brahms? Oder das d-Moll-Konzert von Bach? Es gibt viele Antworten.
Gibt es einen Komponisten, dessen Musik Sie wirklich nicht ausstehen können? Bei mir ist es Carl Orff.
Ólafsson: Carl Orff ist wirklich furchtbar, das finde ich auch. Aber es gibt auch Werke von Beethoven, die ich wirklich nicht mag. Von den 32 Sonaten mag ich nur 20 (lacht). Kann man das sagen? Aber so ist es.
Eine der schlimmsten Fragen habe ich bis zum Ende aufgehoben: Wie sehr nervt es eigentlich, immer wieder „Islands Glenn Gould“ genannt zu werden?
Ólafsson: Das ist ein komisches Spiel. Es hat für mich keine Bedeutung. Aber so ist das im 21. Jahrhundert. Jeder junge Pianist muss ein anderer Pianist sein. Bin ich Glenn Gould? Natürlich nicht, ich bin Víkingur. Ist Yuja Wang die neue Martha Argerich? Nein, sie ist Yuja Wang. Ist Daniil Trifonov der neue Horowitz? Nein, stimmt nicht, er ist Daniil Trifonov. Und das ist viel mehr als genug. Ich kann das verstehen, aber man kann nicht mehr als selbst sein.
CD: „Debussy – Rameau“ (DG, ca. 15 Euro). Konzert: 21. Januar, Laeiszhalle, Gr. Saal. Werke von Rameau, Debussy und Mussorgsky.