Hamburg. Die Camerata Salzburg und Pianist Víkingur Ólafsson zeigen ein herrliches Programm rund um c-Moll. Den Dirigenten hat keiner vermisst.
Soll man es Aberglauben nennen? Was bedeutet es, dass ein Stück in A-Dur oder g-Moll notiert ist? Wir im digitalen Zeitalter denken an Tonhöhen, die sich wie mit einem Schieber stufenlos ändern lassen, und assoziieren mit Dur fröhlich und mit Moll traurig. Fertig. Doch die längste Zeit, seit Menschen Konzerte hören, ist das anders gewesen.
Im 18. Jahrhundert schrieb man den Tonarten mit der blumigen Ausdrucksweise der Epoche die unterschiedlichsten Charakteristika zu. Das klang für c-Moll dann etwa so: „Jedes Schmachten, Sehnen, Seufzen der liebetrunknen Seele, liegt in diesem Tone.“
Elbphilharmonie: Víkingur Ólafsson schmachtet, sehnt und seufzt
Bei ihrem Konzert im Großen Saal der Elbphilharmonie haben die Camerata Salzburg und der Pianist Víkingur Ólafsson ausgiebig geschmachtet, gesehnt und geseufzt. Ein ganzes Programm rund um die Tonart c-Moll, das spricht für volle dramaturgische Absicht.
Los geht der Abend in f-Moll, das ist c-Moll gewissermaßen benachbart und hat in der Notation noch ein „b“ mehr. Was sich das 18. Jahrhundert zu der Tonart gedacht haben mag – etwa „Jammergeächz und grabverlangende Sehnsucht“ – das dürfte den amerikanischen Minimalisten Philip Glass allerdings höchstens aus historischen Gründen interessiert haben, als er 1981 seine „Glassworks“ schrieb.
Er schichtet im „Opening“, das in der Elbphilharmonie in einer Bearbeitung erklingt, Dreiklänge übereinander. Endlos wiederholt das Klavier die Dreiergruppen, die Streicher legen gläsern-unwirkliche Klangflächen darunter, sonst geschieht fast nichts, außer dass sich über die Zeit die Betonung verschiebt. Das Spiel mit Entwicklung, Erwartung und Täuschung, das Musik seit Alters her ausmacht, spielt Glass nicht mit. Stattdessen lockt er sein Publikum in eine Trance.
In Block A der Elbphilharmonie kommt das Echo gleich hinterher
So einfach die Musik gemacht zu sein scheint, so anspruchsvoll ist sie doch auf ihre Art. Wo Neutralität statt Ausdruck gefordert ist, digitales Ebenmaß statt natürlichem Wuchs, müssen die Interpreten uhrwerksartig präzise sein und jede Individualität hintanstellen. Für den Pianisten ist das „Opening“ nicht gerade eine Plattform, um sich als Künstlerpersönlichkeit zu präsentieren. Säuberlich serviert er seine Triolen und Repetitionen, mal gebunden und mal staccato.
Nur die Akustik narrt die Hörer: Von Block A aus klingt das Klavierspiel immer wieder, als würden die Noten doppelt angeschlagen. Man hört also den direkt gespielten Ton und bekommt das Echo hinterhergeliefert. Das ist, gelinde gesagt, etwas viel des Guten.
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Von Glass aus gehen die Musiker, sie spielen unter der temperamentvollen Leitung ihres Konzertmeisters Giovanni Guzzo, direkt zu Bachs Klavierkonzert f-Moll BWV 1056 über. Wobei, Klavierkonzert, naja. Bach hat es natürlich für Cembalo gedacht, er kannte ja keine heutigen Flügel; „Clavier“ war damals ein Sammelbegriff für alles, was Tasten hatte.
Bläser der Camerata Salzburg sind eine Offenbarung
Ólafsson kann man sich am Cembalo jedenfalls kaum vorstellen. Jeder Historisierung unverdächtig, macht sich dieser Pianist seinen eigenen Reim auf die Musik. Und der überzeugt. Ólafsson lässt die Läufe gleichmäßig perlen, langt schon mal ordentlich zu und lotet gedanklich in eine Tiefe, die die Motorik des Stücks zur Nebensache werden lässt. Den langsamen Satz singt er aus, immer im hauchfeinen Kontakt mit den zupfenden Streichern. Im abschließenden Presto wirken der Gesamtklang von Klavier und Streichertutti unweigerlich altmodisch, zumal die Bassgruppe ein wenig wuchtig klingt.
Mit Mozarts Bläserserenade KV 388 ist das Programm bei c-Moll angelangt. Bläser sitzen im Mainstream-Konzertbetrieb weit weg vom Publikum, abgeschirmt durch zahlreiche Streicher. Selbst die großen Kammermusikreihen setzen fast nie reine Bläserwerke aufs Programm. Was für ein Versäumnis!
Was die Oboen, Klarinetten, Fagotte und Hörner an diesem Abend zu Gehör bringen, ist eine Offenbarung. Diese „Nacht-Musique“ ist eine wunderbare Bühne für den Schmelz und den Klangreichtum der Besetzung, aber sie ist eine kleinräumige Bühne, auf der man sehr schnell reagieren muss. Immer neu mischen die acht ihre Farben, lassen einander den Vortritt, sind sich traumwandlerisch einig über Stauungen und Beschleunigungen und setzen noch das kleinste Sechzehntelchen lässig-präzise in den Zwischenraum zwischen zwei forte-Achteln. Und wenn der erste Fagott eine Oboenkantilene begleitet, dann tanzt er förmlich, während er seine paar tiefen Töne hintupft.
Víkingur Ólafsson und Orchester verschmelzen geradezu
Nach der Pause noch einmal Bach. Ólafsson hat den langsamen Satz aus der Violinsonate f-Moll BWV 1018 für Klavier und Streichorchester arrangiert, eine Meditation in Arabesken und Tupfern, schwerelos, zeitlos, manchmal klingt sie fast wie Filmmusik. Und wieder leiten die Musiker attacca, also ohne abzubrechen, zum letzten Stück über, zu Mozarts Klavierkonzert c-Moll KV 491.
Ein Orchester ist ein ganzes Programm über in begleitender Funktion tätig, ohne sich mit einer Sinfonie präsentieren zu können? Das kann gefährlich werden. Aber nicht, wenn man ein Klavierkonzert so aufmerksam, wandelbar und stilkundig spielt. Bei Mozart ist die Camerata hörbar in ihrem Element. Orchester und Solist verschmelzen geradezu. Ólafsson geht bis in die Zehenspitzen mit, wenn er gerade Pause hat. Die Tastatur behandelt er wie ein Lebewesen, scheint mal vor ihr zurückzuschrecken, mal etwas völlig Neues zu entdecken. Und findet immer andere Klangfarben.
Ob man so intensiv zusammen musizieren kann, wenn ein Dirigent dazwischen ist? An diesem großartigen Abend hat ihn jedenfalls keiner vermisst.