Hamburg. Pianistin absolviert Konzert-Wochenende, solo und mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester, auf beeindruckende Weise.

„Klavier spielen“, diese Formulierung klingt so harmlos. Aber wenn man, auf drei Tage verteilt, wie an diesem Wochenende Tamara Stefanovich 20 Solo-Sonaten und drumherum zweimal ein brandneues Klavierkonzert zu absolvieren hat, über das dessen Komponist richtig gesagt hatte, das seien drei Konzerte in einem? Das ist kein Spiel mehr, sondern Schwerstarbeit. Man muss das wollen, die meisten Künstlerinnen und Künstler würden immer wollen, weil sie so sind. Wichtiger aber noch: Man muss es auch jenseits des manuellen Kalorienverbrennens künstlerisch bewältigen.

Stefanovich ist beim NDR Elbphilharmonie Orchester im Großen Saal kurzfristig für Yuja Wang eingesprungen, um Magnus Lindbergs 3. Klavierkonzert zu stemmen – ein Stück, das er auf Wangs 38 überschallschnelle Finger hin komponiert hatte, nachdem er dort 2019 bestaunt hatte, wie kinderleicht sie zwei Rachmaninow-Konzerte abfertigte, als seien das harmlose Aufwärm-Etüden.

Elbphilharmonie: Tamara Stefanovich absolviert Konzert-Marathon

Am konzertfreien Tag zwischen den NDR-Terminen hatte Stefanovich unter dem Titel „Pianomania“ im Kleinen Saal einen netto knapp dreistündigen Marathon mit 20 Sonaten aus mehreren Repertoire-Jahrhunderten und -Nischen vor sich. Allein damit hätte sie schon alle Hände voll gut zu tun gehabt.

Ein riesiges Glück für Stefanovich in dem Last-Minute-Unglück: Als Gastdirigent stand Esa-Pekka Salonen vor dem Orchester. Er und Lindberg sind Jugendfreunde und langjährige „partners in concert“. Wenn es einen Avantgarde-Dompteur gibt, der drohende Wackelkontakte zum Tutti souverän abisolieren kann, um den Solo-Part nicht aus dem Takt zu bringen, dann der andere cool effektive Finne Salonen, der auch die Premiere (mit Wang) im letzten Herbst in San Francisco geregelt hatte.

Tamara Stefanovich: Kopfüber hinein in die Notenmassen

Kopfüber hinein in die Notenmassen ging es für Stefanovich, ständig vermittelte Lindbergs Stück raffiniert inszeniert, Passagen sehr ähnlich aus Repertoire-Größen wiederzuerkennen – hier ein extrovertiertes Rauschen und Tosen vom Kaliber Rachmaninow, da der energische Drive aus einem Bartòk, dort impressionistisches Geträume à la Ravel oder der lässige Entertainer-Witz Gershwins. Kein Fremdeln beim Ersthören, sofortige Vertrautheit mit diesem Material.

Dass Stefanovich, die Lindbergs Noten erst wenige Tage zuvor erstmals begegnet ist, ihren Teil dieses Ganzen mehr buchstabierte als rasant und risikofroh ausreizte, war wenig überraschend. In der Spur bleiben war wichtiger als alles andere. Der Drahtseilakt gelang und Stefanovich, der gerade ein sprichwörtlicher Steinway vom Herzen gefallen war, gönnte sich als Abschluss-Pointe nach so viel Überdruck noch die stumme Tastenlöwinnen-„Pantomime“ von Kurtág.

Elbphilharmonie: Ein Feier-Abend für Bruckner

Feierabend für Stefanovich – ein Feier-Abend für Bruckner. Bei Esa-Pekka Salonen nämlich klingt dieser Komponist nicht nach Weihrauch, katholischer Messe und Klangkathedrale, sondern wird verschlankt, sehnig und gut durchgelüftet. Für die Originalfassung der Sechsten hatte er sich entschieden, und vom ersten nervösen Flimmern der Streicher an, mit denen er den Kopfsatz beginnen ließ, war klar, dass hier keine Denkmalpflege im Mittelpunkt stehen sollte.

Dieser Bruckner war sehr diesseitig, dachte und fühlte visionär vorwärts, aus den Befindlichkeitsnebelschwaden der Spätromantik heraus in die am Horizont zu erahnende Frühmoderne. Nicht immer gelangen die Blech-Sätze am Freitag so leicht und makellos ausgewogen, wie es Salonens klar sezierender Perspektive entsprach. Doch das waren höchstens kleine Schönheitsfehler in einer Interpretation, die nichts Gestriges hatte.

Runde zwei in Stefanovichs Triathlon: die Sonaten-Langstrecke

Knapp einen Tag später, Kleiner Saal: Runde zwei in Stefanovichs Triathlon, die Sonaten-Langstrecke. Ihrem musikalischen Naturell entsprechend, hatte sie Barockes mit Solitären aus der mehr oder weniger tagesaktuellen Repertoire-Gegenwart gemischt, ein Slalomlauf zu Größen und Unterschätzen, Einzelfängern und Außenseitern. Kein Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert. Weitere 20 Sonaten mehr und ganz ohne Pausen, und es hätte auch ein Igor-Levit-Event sein können. So aber war es ein erhellendes Plädoyer fürs Großartige im Kleineren, mit einer Bach-Sonate beginnend und sich dann steigernd.

Verbindungsglieder zwischen den „Exoten“ waren charmante Scarlatti-Sonaten, nicht immer mit der nötigen Spritzigkeit, zwischen den Herausforderungen. Auf sortierende, aber auch trennende Unterbrechungen zwischen den jeweiligen Stücken verzichtete Stefanovich konsequent, nichts sollte den langen, wilden Fluss des Projekts portionieren.

Spannend also, wie es aus Busonis überschäumender Sonate zurück zu Ahnvater Scarlatti ging; wie sinnverwandt CPE Bachs frühklassische Spielereien sich mit Ives‘ schrullig-genialer „Three-Page Sonata“ (nur komplett mit extra Glockenspiel-Tönchen) vertrug.

Elbphilharmonie: Tamara Stefanovich hebt sich das Tollste fürs Finale auf

In den „Frühwerken“ wirkte Stefanovich fast etwas unterfordert, da und dort machte sich Pauschal-Umgang bemerkbar. Packender, zupackender, mit energischerer Leidenschaft dabei war sie in den größeren Herausforderungen: Sperriges und Exzentrisches wie die Eisler- oder die dritte Hindemith-Sonate, ins Mystische Entrücktes wie Skrjabins „Schwarze Messe“, dort war diese Pianistin mit aller Herzenskraft zu erleben. Ging es nach mehreren Stunden noch intensiver?

Die tollsten Exemplare hatte sie sich fürs Finale aufgehoben: Janaceks „1.X.1905 (Von der Straße)“, höchstens dem Beinamen nach noch eine Sonate, wurde bei ihr zum Seelen-Drama. Für Galina Ustwolskajas Sonate Nr. 6, 1968 einem Leben als Verkannte abgerungen, zog Stefanovich Handgelenkschoner an, um dem Flügel, wie von der Extrem-Komponistin verlangt, Prügel zu verpassen, wütend, verzweifelt, erbarmungslos und zu keinem Kompromiss mehr bereit. Tosender Beifall und eine stehend k. o. glückliche Pianistin, gerade mal einen halben Tag vom nächsten Riesen-Auftritt entfernt.

Aktuelle CD: „Vassos Nicolaou: Etudes & Frames“ (Pentatone, ca. 16 Euro)