Hamburg. In Hamburg fand erstmals das Leseclubfestival statt. Die Autoren Feridun Zaimoglu und Sophie Passmann diskutierten auf Augenhöhe mit ihren Leserinnen und Lesern über Literatur – und noch mehr über die Gesellschaft.
Literatur ist auch dann gut, wenn sie Räume öffnet. In der Fantasie meistens. Oder auch mal in der Wirklichkeit. Und so kam es, dass der Schriftsteller Feridun Zaimoglu am Sonnabendabend in einer Altbauwohnung auftrat und die Autorin Sophie Passmann in einem Atelier im Schanzenviertel. Nicht als von einem Mäzen auf das bürgerliche Parkett oder aufs künstlerische Geläuf geladene Hauptfiguren einer Privatlesung, sondern als Gäste auf der Premiere des Hamburger Leseclubfestivals. Zaimoglu will, zusammen mit fast 20 Leserinnen und Lesern, über sein aktuelles Buch „Die Geschichte der Frau“ sprechen. Textinterpretation mit Autor, sozusagen. In einem durchaus intimen Rahmen, nämlich der im Uni-Viertel gelegenen Wohnung von Natascha Geier. Die NDR-Kulturjournalistin moderiert den Abend und fungiert als Gastgeberin dieser einen von sechs Veranstaltungen des Leseclubfestivals.
Neben Zaimoglu und Passmann hat Veranstalter Daniel Beskos die Autoren Jochen Schmidt, Marie-Alice Schultz, Stephan Orth und Isabell Lehn nach Hamburg eingeladen. Während man sich im jeweils übersichtlichen Kreis von knapp zwei Dutzend Literaturbegeisterten an öffentlichen und halb öffentlichen Kulturorten trifft, ist die Zaimoglu-Veranstaltung die einzige im privaten Rahmen.
Das Modell „Hamburger Wohnzimmer“ bietet dabei genug Platz für einen Stuhlkreis. Und weil es der Gastgeberin gelingt, mit allem, was sie an Sitzgelegenheiten auftreiben konnte, jedem einen Platz anzubieten, ist der demokratische Zirkelschluss tatsächlich hergestellt: Einer schreibt ein Buch, andere lesen es, und dann beantwortet der, der es geschrieben hat, die Fragen derer, die es gelesen haben. Bei gediegener Vollverpflegung – Brezeln, Erdnüssen, Wein, Bier, Wasser – soll also ein kultiviertes Gespräch über Literatur stattfinden.
Teilnehmerfeld aus Lehrern, Juristen, Buchhändlern, Buchbloggern
Das lauschig beisammensitzende Teilnehmerfeld besteht dabei aus Lehrern, Juristen, Buchhändlern, Buchbloggern. Einer erzählt in der Vorstellungsrunde, er besitze ein Raumfahrtunternehmen in Berlin. Erstaunlich! Aber Literatur will ja auch immer hoch hinaus. Das möchte der wie immer komplett schwarz gewandete Zaimoglu sowieso, der mit „Die Geschichte der Frau“ für den Leipziger Buchpreis nominiert war. In seinem Buch porträtiert er wortgewaltig und sprachmächtig zehn Frauen. Manche gab es wirklich, andere sind erfunden. Manche kennt man, von anderen hat man noch nie gehört: Antigone, Zippora, Brunhild, Leyla und Co., ein „feministisches Manifest“, wie es in allervollster Absicht auf dem Bucheinband heißt. Der Feminismus wird übrigens ein beherrschendes Thema an diesem Abend sein. Später mehr.
Zaimoglu, auf dem Leseclubfestival ein umgänglicher Autor zum Anfassen („Ich mag Veranstaltungen wie diese – ohne Orchestergräben und direkt“), präsentiert sich dem Kreis freilich von Beginn an auch als angefasster Autor. Es gab ein paar eher unfreundliche Rezensionen, und die ziehen dann doch immer eine gewisse Gekränktheit nach sich. Zaimoglu („Literaturkritiker gebärden sich heute wie Internettrolle“) nutzt die Gelegenheit, selbst zu keilen. Und sucht im unmittelbaren Gespräch mit den Lesern Trost von der Qual des Abgestraftwerdens.
Was sich dabei entspinnt, ist ganz nach den Vorstellungen der Veranstalter tatsächlich ein lebhaftes Gespräch. Wobei nicht alle Wortmeldungen der 14 Leserinnen und drei Leser – Vorannahme wieder mal bestätigt: Es sind überwiegend Frauen, die lesen – Balsam für des Dichters Seele sind. Wo Zaimoglu noch mal all das aufsagt, was manch einer – „Es sind vor allem die Männer, die gereizt auf dieses Buch reagieren“ – ihm vor den Latz knallte, also die tatsächlich unfairen Vorwürfe, er wolle wohl der Feminist der Saison sein, er sei berechnend, er surfe ganz oben auf der #MeToo-Welle: All das interessiert sein Publikum hier gar nicht mal so sehr. Eine Teilnehmerin bemerkt, es sei ja nicht nicht zu leugnen, dass er „ ein männlicher Autor“ sei, und deshalb spreche nun wieder einmal ein Mann für die Frauen. Zaimoglu, der selbsterklärte „Method Writer“, erklärt daraufhin, am liebsten ohnehin hinter seinem Text verschwinden zu wollen. Er habe, sagt Zaimoglu, den „ungebrochenen Glauben an die Literatur: Mit ihr kann man alles machen.“ Also auch als Mann in den Geschichten der Menschheit von der Vorzeit bis heute endlich den Frauen eine Stimme geben.
Kritik an der stellenweise derben Sprache
Eine Idee, die bei den anwesenden Männern und Frauen gleichermaßen auf Gegenliebe stößt. Kritik gibt es aber an der stellenweise derben Sprache. Und der Wut, der Aggression, die sich Bahn bricht. Schade dies nicht der feministischen Sache? „Meine Frauen“, erklärt der wehrhafte Autor an dieser Stelle unmissverständlich, „sind keine harmoniesüchtigen Häschen auf der Weide“. Da springen ihm – was sichtlich für Genugtuung bei Zaimoglu sorgt – eilig zwei Teilnehmerinnen zur Seite. Warum soll die Frau immer im Geiste der Humanität handeln, wo doch die Männer im Dienste des Machterhalts genau dies nicht tun? Es geht, bei den ästhetischen Fragen und den gesellschaftlichen, um alles.
Aber geht es auch immer so ernst zu? Gar nicht: Gleich am Anfang lobt Moderatorin Geier in einem Quiz zum Inhalt des Buches für jede richtige Antwort einen Wodka aus. Ein Prosit auf genaues Lesen! „Teste deine Intelligenz gleich hier“ , steht zur selben Stunde an einem Bürofenster im Schanzenviertel, mit schwarzem Edding direkt auf das Glas geschrieben. Der Pfeil scheint Richtung Ausgang zu weisen, aber Hirn und Herz werden heute eindeutig innerhalb des Ateliers Freudenhammer angeregt. Es gibt – genau wie am Grindel – Wein (rot und weiß), Saft (O und A), Bier und Brezeln. Früher war die Ateliergemeinschaft, die sich im Alltag Illustratoren, Trickfilmer, Webdesigner und Fotografen teilen, mal eine Spitzenmanufaktur, mal eine Wurstfabrik. Reihenfolge unbekannt. Heute Abend, während der Rest des Ausgehvolks sich auf den Bürgersteigen und in den Parks beim ersten Sommer-im-Frühling-Getränk drängt, sitzt Sophie Passmann im Atelier Freudenhammer auf einer Eckbank und tippt zunächst doppeldäumig auf dem Smartphone herum.
Sophie Passmann ist Autorin, Moderatorin, Satirikerin, SPD-Mitglied. Sie hat fast 78.000 Follower bei Twitter, mehr als 65.000 Abonnenten auf Instagram. „Unbestechlichen Feminismus gibt es auch in lustig“, bescheinigt ihr ARD-Moderatorin Anne Will, „für ihr Alter“ sei sie „ganz schön viel da“, findet ihr Verlag. Denn Sophie Passmann hat ebenfalls ein Buch geschrieben, es ist ihr zweites, aber ihr „erstes richtiges“, wie sie selbst meint. Und es ist – unbeabsichtigt, versteht sich – an diesem Abend gewissermaßen das Komplementärstück zum Zaimoglu-Werk. „Alte weiße Männer: Ein Schlichtungsversuch“, erschienen bei Kiepenheuer und Witsch. „Wer hat es nicht gelesen?“, fragt Maike Mia Höhne, Regisseurin und künstlerische Leiterin des Internationalen KurzFilmFestivals in Hamburg, die den Abend moderiert, direkt zum Einstieg. Tatsächlich hebt nur eine einzelne Besucherin in der letzten Reihe, fast ein wenig schuldbewusst, die Hand. Die anderen wissen genau, wofür sie hier sind. Vorbereitung gehört zum Konzept. Vor allem Frauen sind auch hierhergekommen, immerhin vier (junge) Männer haben sich dazu getraut.
Der Wodka wird herumgereicht
Auch im Schanzen-Atelier wird zum Warmwerden der Wodka herumgereicht. Sophie Passmann, eine ausgesprochen schlagfertige und erfrischend (vor)witzige Person, hat sich für ihr Buch mit Männern getroffen. Mit einflussreichen Männern wie dem ehemaligen „Bild“-Chef Kai Diekmann, dem Grünen-Bundesvorsitzenden Robert Habeck, dem ehemaligen CDU-Generalsekretär Peter Tauber. „Alt“ ist da manchmal eine Frage der Definition (im Sinne von: konservativ, mächtig), mitunter auch einfach der Perspektive. Sophie Passmann ist 25, in einem Alter also, in dem manche mehr forsche Antworten als Fragen haben.
Sie, die an diesem Abend übrigens wie selbstverständlich von allen geduzt wird, hat trotzdem erst einmal Fragen gestellt. „Sind Sie ein alter, weißer Mann?“, war jeweils der Einstieg, um dann über Feminismus und Sexismus zu plaudern. „Wie viele Männer hat Sophie Passmann interviewt?“, lautet also die erste Schnaps-Frage, 16 ist die korrekte Antwort. Dass zunächst alle darunter tippen, spricht für die Kurzweiligkeit der Texte. Es steht also schon zum Auftakt 10:16, zehn Frauen für Zaimoglu, 16 Männer für Passmann. Da ist der ehemalige Boulevard-Journalist, der das nackte Seite-1-Mädchen mit dem Deckengemälde der Sixtinischen Kapelle vergleicht, da ist der Modeblogger, der glaubt, Feminismus sei ein Luxusproblem. Da sind Jusochef Kevin Kühnert, „Welt“-Chefredakteur Ulf Poschardt, Althippie Rainer Langhans – und der Vater der Autorin, Papa Passmann. „Manche Männer deklassieren sich selbst, wenn man sie nur lässt“, kommentiert Sophie das Ergebnis ihrer Feldforschung trocken, „man muss da gar nix mehr machen.“
Es geht um die #MeToo-Debatte
Woran sie fraglos großen Spaß hat – und die anwesenden Frauen ebenfalls: „Sich mit alten, weißen Männern zu treffen und mit ihnen über Feminismus zu sprechen, das ist ja quasi das perfekte Verbrechen!“ Von „harmoniesüchtigen Häschen auf der Weide“ findet sich auch hier, in der gut gefüllten Küchenecke der Ateliergemeinschaft, nicht die geringste Spur. Es geht um die #MeToo-Debatte („in Deutschland nicht ausführlich genug geführt“), um Hello-Kitty-Maschinengewehre („wie bitte?!“), um ungleiche Bedingungen und toxische Männlichkeit: „Der Feminismus schaut gerade auf die Männer, und das ist sehr, sehr gut“, findet Passmann, die es als Teil der Lösung begreift, „Leute an ihre Privilegien zu erinnern, seine eigenen Privilegien zu reflektieren“. Das sei oft schmerzhaft und mindestens ungewohnt, „man merkt, dass viele Männer darauf empfindlich oder aggressiv reagieren“.
Die Unerschrockenheit dieser jungen Frau im Schneidersitz wirkt dabei durchaus beeindruckend: „ Ich kann einen Streit anzetteln und dann auch ausfechten“, stellt sie leichthin fest, „mir ist egal, ob jemand sagt: Ha, die Sophie ist aber zickig geworden, seit sie Feministin ist.“ Man glaubt es ihr sofort. Diese Sophie, deren sanfter Vorname für Weisheit und Tugend steht, das ist eine, die permanent aneckt. Die keine Pointe verschenkt, die gehört werden will, aber nicht um jeden Preis gemocht. Kann schon sein, dass das nicht jeder – und wohl auch nicht jede – sympathisch findet. Ist aber unerheblich. Wenn ihr jemand allzu dumm kommt, ist sie nicht nur mit großer Klappe und starken Sachargumenten gerüstet: „Ich habe dieselbe Anwältin wie Bushido!“
Ein starkes Bedürfnis, sich auszutauschen
Ein netter Effekt, natürlich, der Gag sitzt. Der Hintergrund hat es allerdings in sich. Wer sich wie Sophie Passmann öffentlich, und das bedeutet vor allem auch: im Netz, für Frauenrechte einsetzt, der kennt sich irgendwann aus mit anonymen und nicht so anonymen Belehrungen, mit Beleidigungen, Vergewaltigungswünschen und Morddrohungen. Laut sein muss man sich trauen. Und es hilft, nicht allein zu sein. Sophie Passmann, das wird auch an diesem Abend schnell deutlich, hat eine ermutigende Wirkung. Die durch das Format vorgegebene Intimität des Leseclubfestivals bietet einen Raum, die Gegenwart mit großer Ernsthaftigkeit zu verhandeln, und offenbart ein starkes Bedürfnis, sich auszutauschen, Komplizinnenschaft zu finden. „Im Krieg und im Feminismus ist alles erlaubt“, stellt Sophie Passmann spöttisch fest und erklärt den eigenen Erfolg auch mit radikaler Coolness – einer Kategorie, die Frauen sonst eher nicht so oft zugestanden wird. Dass mehr Frauen ihr Buch gelesen haben als Männer – geschenkt. Womöglich aber haben zugleich mehr Männer dieses feministische Buch gelesen als irgendein anderes. Was daran liegen könnte, dass ihre eigene Spezies darin ausführlich zu Wort kommt. Sophie Passmann sieht auch das pragmatisch: „Whatever floats your boat“ – was auch immer dich glücklich macht. Hauptsache, die Botschaft kommt an.