Hamburg. Mit wenigen, fast zärtlichen Gesten führt Star-Dirigent Simon Rattle Chor und Orchester durch Bachs Johannes-Passion.

In dem hellen Viereck, das der Scheinwerfer aus vielleicht zwei Metern Höhe auf den Bühnenboden wirft, liegt ein Mann auf dem Bauch, die Augen verbunden, erschöpft von der Geißelung. Sein Peiniger beobachtet ihn mit katzenhafter Gespanntheit, dann robbt er an den Liegenden heran: „Redest du nicht mit mir?“, fragt er drohend. „Weißest du nicht, dass ich Macht habe, dich zu kreuzigen?“

Der andere erwidert: „Du hättest keine Macht über mich, wenn sie dir nicht wäre von oben herab gegeben.“ Die Baritone Roderick Williams als Jesus und Georg Nigl als Pilatus flüstern diese Verhörszene aus Bachs „Johannes-Passion“ mehr, als dass sie singen. Und doch trägt die Akustik den intimen, erschütternden Moment in jeden Winkel im Großen Saal der Elbphilharmonie.

Jesu Leiden und Sterben war von unfassbarer Brutalität. Der Regisseur Mel Gibson hat das 2004 in „The Passion of the Christ“ bis ins Detail ausgeleuchtet. Im Oratorienbetrieb dagegen gehen die Härten leicht in Bachs herzzerreißender Musik unter. Kann man die „Johannes-Passion“ überhaupt visualisieren, ohne dass das in Splatter oder Kitsch ausartet? Nach der Aufführung von Peter Sellars’ Inszenierung stellt sich die Frage nicht mehr. Sellars braucht kein Bühnenbild, besagte Lampe und ein Stuhl reichen ihm als Requisiten. Der Rest ist Bewegung, Blick, Beziehung.

Dieser Evangelist fühlt mit

Der Tenor Mark Padmore macht aus der gefürchteten Partie des Evangelisten eine Erzählung. Schier atemlos folgen die Menschen seiner klaren, warmen, vollendet souverän geführten Stimme. Dieser Evangelist ist kein neutraler Beobachter, er fühlt mit, bewegt sich zwischen den Protagonisten, berührt sie. An Wendepunkten der Handlung lässt er seine Sätze länger stehen, als es die Noten vorgeben. Diese Freiheit gibt ihm die Form des Rezitativs, manchmal allerdings überdehnt er die Pausen ein wenig.

Simon Rattle führt die Beteiligten mit wenigen, beinahe zärtlichen Gesten. Die Musik atmet Empfindung bis in jedes Komma. Für die Arien treten die Instrumentalsolisten des „Orchestra of the Age of Enlightenment“ nach vorne und rahmen die Sänger ein wie Schutzengel. Während die Arien in der Partitur zur Reflexion da sind, werden sie bei Sellars zum Teil der Handlung. So ist bei „Von den Stricken“ die Altistin Christine Rice eine Maria Magdalena in vamp-rotem Kleid und verführt den gefangenen Jesus. Stimmlich erreicht sie nicht ganz das Niveau des übrigen Ensembles.

Der Chor ist Herz und Seele des Ganzen

Den Choir of the Age of Enlightenment hat Sellars choreografiert. Einzelne Gesten stehen für bestimmte Worte, und da die Stimmen überwiegend kontrapunktisch verlaufen, ergibt sich ein fortwährend bewegtes und zugleich gefasstes Gewebe von Gefühls-Chiffren. Ach, überhaupt dieser Chor. Er ist Herz und Seele des Ganzen, singt im Liegen und im Laufen, wechselt in Sekundenbruchteilen die Rollen, verwandelt sich vom tobenden Mob in die verlassenen Jünger und weiter in die Gemeinde der Gläubigen, die die Choräle singt.

Homogenität ist eine Tugend für jeden Chor, hier aber krönt gelegentlich das Vibrato einzelner Sänger den Chorklang, ohne herauszufallen, und fügt ihm so eine persönliche Farbe hinzu. Schon in den vielstimmigen Aufschrei „Herr“ im Eingangschor legen die Sänger das ganze Leid des Menschen. Jedes Individuums, nicht der Menschheit.

„Es ist vollbracht“, ächzt Jesus nach der Kreuzigung, mit ausgebreiteten Armen liegend. Die Altistin, die eben noch bei ihm kniete, nimmt den Satz in ihrer Arie auf. Und als sie sich nach dem bewegten Mittelteil wieder zu Jesus wendet, da ist von ihm nichts als ein Lichtfleck geblieben. Knapper, hoffnungsvoller als Sellars kann man ein Credo nicht fassen.