Hamburg. Die beliebte Schauspielerin trägt die Uraufführung von Klaus Pohls “Lasst mich in Ruhe!“. Die Regie hätte aber straffer sein können.
Wenn ein privates Theater ein neues und unbekanntes Stück herausbringt, ist das immer ein Wagnis. Das St. Pauli Theater und Intendant Ulli Waller ist dieses Risiko gerade mit der Uraufführung von Klaus Pohls „Lasst mich in Ruhe!“ eingegangen. Wenn das Publikum so ein Stück nicht kennt, benötigt ein Theater zumindest einen prominenten Schauspieler, der als Lokomotive fungiert.
Im Haus am Spielbudenplatz ist das Eva Mattes. Die ehemalige „Tatort“-Kommissarin besitzt diesen hohen Bekanntheitsgrad, zudem ist sie eine der profiliertesten deutschen Theaterschauspielerinnen und dem St. Pauli Theater seit Jahren eng verbunden.
Alleinerziehende Mutter aus Rumänien
In „Lasst mich in Ruhe!“ verkörpert sie Marta, eine alleinerziehende Mutter aus Rumänien, die sich und ihre Teenager-Tochter als Putzfrau und anderen Jobs mehr schlecht als recht durchschlägt. Sie ist das Beispiel einer hart arbeitenden und gebildeten Frau mit einem intakten Wertesystem, die alles dafür tut, dass ihre Tochter es in Deutschland einmal besser haben soll.
Doch Charlotte (Edda Wiersch), die ihren Namen französisch, also ohne das –e am Schluss ausspricht, ist das Gegenteil ihrer fleißigen Mutter. Zu Beginn des Stücks legt sie ein Solo hin, in dem sie unverblümt ausspricht, was sie aktuell vom Leben möchte, nämlich kiffen, saufen, chillen und etwas, das sie mit ganz vielen ffffffs benennt.
Tochter ist der Prototyp der Großstadt-Göre
Sie selbst nennt sich „1000 Grad in Barmbek“. Charlotte ist der Prototyp einer verzogenen Großstadt-Göre mit dem Hang zu sozialer Verwahrlosung. Der Konflikt mit der Mutter ist programmiert, Stress und Schulwechsel der Tochter, die durch Dach und Latten geht, sind an der Tagesordnung. Diese Konstellation birgt eine Menge Konfliktpotenzial.
Regisseur Ulli Waller entscheidet sich dafür, den beiden Protagonistinnen jeweils eine Erzählerfunktion zuzuweisen und zu zeigen, was in ihnen gerade vorgeht. Beide suchen das Glück. Marta findet es in den Armen eines aufschneiderischen Versicherungsvertreters (Stephan Schad), den Charlotte verächtlich „Insurance-Klaus“ nennt.
Ritalin als Ersatz-Speed
Doch dieser Mann mit der großen Klappe mischt sich stark in das Leben der beiden Frauen ein und sorgt dafür, dass Charlotte in ein Internat kommt. Das neue Umfeld und die Einnahme von Ritalin, eines Medikaments gegen ADHS, verwandeln den Teenager in eine fokussierte junge Frau. Das Ritalin wirkt bei ihr jedoch später wie Ersatz-Speed, Charlotte wird süchtig und geht auf die Straße.
Der Dramatiker und Schauspieler Klaus Pohl, der in den 70er-und 80er-Jahren Ensemblemitglied am Schauspielhaus und am Thalia Theater war, hat mit „Lasst mich in Ruhe!“ ein Stück mit vielen aktuellen Bezügen geliefert, doch Wallers Inszenierung weist einige Unschärfen auf. Warum zum Beispiel steht die Putzfrau Marta bei einem Barbesuch mit ihrer Freundin Jela (Anne Weber) auf der Bühne und singt „Those Were The Days“?
Kulissenschieberei im Dauertakt
Die dauernden Erwähnungen von konkreten Orten in Hamburg wirken geschmäcklerisch und haben mit der Handlung nichts zu tun. Auch das Bühnenbild (Nina von Essen) hätte man sich polyfunktionaler gewünscht. Die Kulissenschiebereien nach jeder Szene wirken störend. Wer braucht eine Couch, die gefühlt nach zehn Sekunden wieder rausgerollt wird? Man darf Zuschauern schon zutrauen, dass sie das Abstraktionsvermögen besitzen, sich Räume vorzustellen, ohne Details vorgesetzt zu bekommen.
Erweitert wird Pohls Vorlage auch um zwei Musikanten und viel Musik. Der Akkordeonspieler Jakob Neubauer hat die musikalische Leitung übernommen und sich mit dem Saxofonisten Gabriel Coburger einen der besten Jazzmusiker Hamburgs dazugeholt. Die beiden orchestrieren das Geschehen auf der Bühne und spielen Balkan-Folklore aus Martas Heimat, Popsongs oder jazzige Melodien. Sowohl Eva Mattes als auch Anne Weber sind starke Sängerinnen und bekommen Gelegenheit, diese Qualitäten zu zeigen.
Gesangseinlagen ohne Sinn
Die Problematik des Stückes bringen die Gesangseinlagen jedoch nicht weiter. Auch wenn die Regie straffer hätte ausfallen können, ist der Abend allein wegen Eva Mattes’ Schauspielkunst sehenswert. Überzeugend spielt sie die Mutter, die hin- und hergerissen ist zwischen der Sorge um die Tochter und der Erfüllung ihres eigenen Glücks und die sich lange dem eigentlich unerträglichem Machismo ihres Freundes Klaus unterwirft, weil er ihr materiellen Wohlstand bietet.
Auch die junge Edda Wiersch behauptet sich als überdrehte Tochter gut gegenüber ihrer Über-Mutter. Doch es ist vor allem Eva Mattes, die den Abend trägt. Genauso wie vom Theater intendiert.
„Lass mich in Ruhe!“ läuft bis 27.4., St. Pauli Theater (S Reeperbahn), Spielbudenplatz, Karten ab 19,90 in der HA-Geschäftsstelle, Großer Burstah und unter T. 4711 0666; www.st.pauli-theater.de