Hamburg. Der Hamburger Liedermacher stellte im Thalia Theater sein Buch „Barbara. Liebesnovellen und andere Raubtiergeschichten“ vor.
Die Tasche, bepackt mit was auch immer, macht es am Ende aus. Die Tasche, die das „geschenkte Kind“ eilig aufhebt und dem Alten, den wir hier jetzt einfach so nennen wollen, hinterherträgt. Der hat sich ja vorhin selbst sogar einen „Greis“ genannt. Die Tasche, die Manuel Soubeyrand seinem Ziehvater Wolf Biermann in die Hand drückt, er soll sie bloß nicht auf der Bühne vergessen. Soubeyrand, der Senftenberger Theaterintendant, hat den Besuchern des Thalia Theaters gut eine Stunde lang aus dem Leben Wolf Biermanns vorgelesen. Dessen Amouren vor dem Publikum ausgebreitet, sein einstiges Leben in der DDR und, ein wenig auch das, sein späteres in Hamburg.
Biermann hat ein neues Buch geschrieben, es ist eine Art Nachklapp zur großen Autobiografie von vor drei Jahren („Warte nicht auf bessre Zeiten!“), als Biermann 80 wurde und überall großer Bahnhof war, in Hamburg und in Berlin, seinen beiden Städten. Das neue Buch trägt den Titel „Barbara“ und im Untertitel: „Liebesnovellen und andere Raubtiergeschichten“. Manuel Soubeyrands Mutter Brigitte spielt darin auch eine Rolle. Nämlich die der Gefährtin des damals, 1960, noch nicht berühmten Biermanns, zu der dieser keineswegs schuldbewusst kriecht, nachdem er aus dem Bett einer anderen geflohen ist.
Wolf Biermann hat neun leibliche Kinder mit vier Frauen
Soubeyrand hat über Biermann einmal gesagt, der sei der einzige Vater gewesen, „den er je hatte“; und Biermann selbst schreibt in seiner Autobiografie nicht nur vom „geschenkten Sohn“, er nennt Soubeyrand auch sein „Herzenskind“. Neun leibliche Kinder mit vier Frauen hat Wolf Biermann, aber Manuel Soubeyrand, der angenommene Sohn aus der Beziehung mit Brigitte, in seiner frühen Ostberliner Zeit, war sein erstes.
Daran dachte man während der Buchvorstellung im Thalia, in der ein Sohn die erotischen Abenteuer des Vaters vortrug. In der er, wenn der Vater dann selbst das Wort ergriff, in einer Mischung aus Scheu, Bewunderung und Amüsement seinen Blick auf Biermann zu lenken schien. Doch doch, die von Biermann, dem Liedermacher und Wortsetzer, mit hohem Ton bereitete sentimentale und gefühlsüberschwängliche Atmosphäre hatte eine leise, völlig unliterarische Wahrhaftigkeit. Weil ein Mann, auch er schon über 60, dem Mann lauschte, mit dem er einst laufen lernte. Weil er darauf achtete, dass der beim Verlassen der Bühne seine Tasche nicht vergisst. Es war insgesamt ein bisweilen rührender Abend.
Männliches Dominanzverhalten ist derzeit ein heikles Thema
Aber auch ein Abend, bei dem es um einen Mann ging, der aus einer anderen Zeit stammt. Um Wolf Biermann, der ausgerechnet jetzt über die Liebe schreibt, wie er sie in jüngeren Jahren erlebte. Er schreibt in „Barbara“ tatsächlich „Raubtiergeschichten“, von sich und anderen Typen nämlich, echten Typen, die sich die Frauen nahmen, wie es ihnen beliebte. Gut, dass auch die Damen darauf Lust hatten; und unterhaltsam, wie Biermann von seinen Eroberungszügen berichtet. Aber männliches Dominanzverhalten, selbst wenn es von weiblicher Seite erwünscht sein sollte, ist derzeit ein heikles Thema. Thalia-Intendant Joachim Lux, der die Rolle des Moderators übernahm, ließ nicht erkennen, ob er eine aktuelle Einordnung jener Geschichten aus der Mitte des 20. Jahrhunderts wünschte, aber es war dann jedenfalls Biermann selbst, der nach dem den Abend eröffnenden Lesungsteil gleich mit seiner ersten Bemerkung alle Verdachtsmomente im Hinblick auf eine eventuelle Ignoranz abräumte. „Das passt ja gar nicht in unsere #MeToo-Zeit“, sagte also Biermann und schaute dabei noch nicht einmal kokett.
Das mochte aber auch daran gelegen haben, dass sein immerhin freiwillig komischer, immer grimmig direkter und keinerlei Dezenz kennender Schreibstil ganz natürlich dann in den Bereich der Peinlichkeit einbiegt, wenn es um Sex geht. Die Geschlechtsteile nennt Biermann konsequent die „Zentralorgane“, das ist eigentlich allerdings gar nicht so schlecht. Die Liebesnächte mit der eingangs erwähnten Krankenschwester beschreibt er so, Soubeyrand las diese Zeilen souverän und ungerührt: „In meiner Venus wohnte tief innen ein Raubtierchen. Ein saftiger Schwellkörper vielleicht, nein, ein seltener Muskel musste das sein. Der schnappte nach meinem Will, zog ihn immer noch tiefer rein und massierte mein Zentralorgan im aufreizenden Rhythmus.“ Und: „Ihre Beine umschlangen mich. Ich hielt ihren bebenden Hintern. Diese Frau war einfach der saftigste Pfirsich, den ich je gepflückt hatte.“
Biermann legt die Fingerspitzen aneinander wie Angela Merkel
So tönte es im Thalia Theater, und wer nicht nur zuhörte, vielleicht überrascht von der altersgeilen Lust an der Offenheit, vielleicht aber auch gerade nicht, wer auf Biermann guckte, der sah, dass er pünktlich bei der Nennung des „Zentralorgans“ die Fingerspitzen aneinanderlegte, als wäre er Angela Merkel und nicht Wolf Biermann. Die Veranstaltung rief seltsame und unpassende Assoziationen hervor!
Biermanns Gesprächspartner Lux, seit langem ein guter Bekannter Biermanns („Wir sind beide Raubtiere, Joachim – ich der Wolf, du der Luchs“), erinnerte übrigens recht schnell daran, dass die neuen Texte Biermanns, die Novellen, ja Literatur seien und deswegen die Figur, die dem Leser da begegne, nicht notwendigerweise Biermann selbst sei, sondern eben das: eine literarische Figur. Das ist in der Tat das Schöne an den Büchern: Sie ermöglichen dem Autor, sich auf die Ausrede zurückzuziehen, es sei ja alles ganz und gar oder zumindest halb erfunden.
Für seine Autobiografie recherchierte Biermann in seinen Stasi-Akten
Biermann erklärte, wie penibel er bei der Autobiografie gewesen sei. Da hätte er aus seinen Stasi-Akten und den mehr als 200 Tagebüchern geschöpft. Seine Frau, die die Texte sicherheitshalber auch las, habe ihm dann aber oft mitgeteilt: „Wo-holf, das stimmt so nicht, das war anders als du jetzt schreibst“. Bei den jetzt erschienenen Novellen, so erzählte Biermann, habe er es nicht ganz so genau nehmen müssen. Alles sei „realistisch“, aber der „Zusammenbau der Elemente“ ein Akt der Fantasie. Diese Fantasie ist es, die in den allein schon aufgrund seiner VIP-Dichte – Brecht, immer wieder Brecht, Helene Weigel, Ekkehard Schall – lesenswerten Stücken die „Zentralorgan“-Zoten mit DDR-Dramen zusammenbringt. Hinter der süßen Bettgeschichte lauert der bittere Alltag in der Diktatur.
Die wahre Stärke der Texte über all dem erotischen Tand ist die Vergegenwärtigung des Lebens mit der real existierenden sozialistischen Lüge. Der erotomane Mann mit dem „kommunistischen Knall im Kopp“ (Biermann über Biermann) hat nicht nur Spaß mit dem „Pfirsich“, nein, der „Pfirsich“ ist weit mehr als Frucht, er ist eine tragische Gestalt. Eine alleinerziehende Frau in den Fängen der Staatssicherheit: Ein Arzt hat die Krankenschwester geschwängert und dann Republikflucht begangen. Die DDR lässt niemanden einfach so gehen, sie will ihm mithilfe der Frau eine Falle stellen. Diese warnt ihn, obwohl er sie sitzenließ. Die Stasi hat ihre Zuträger jedoch auch in Westberlin, und so hat sie die Verräterin nun erst recht am Wickel. Sie muss sich nun im Westen „um interessante Männer kümmern“, als Hure im Dienste des Sozialismus.
Zwei andere von Biermanns Geschichten trug Soubeyrand noch vor. Eine spielt in Hamburg und handelt vom zwiespältigen Andenken der Hansestadt an die Ermordung ihrer Juden. Ein dichtes, erzählerisches Meisterstück, in dem Biermann, der Sohn eines Mannes, der im KZ ermordet wurde, nach dem Diebstahl einer Eisenbahnschwelle nebst Schrauben und Schottersteinen im Garten sein eigenes Holocaustmahnmal stehen hat. Die andere Geschichte spielt wieder im Ostberlin der alten Zeiten und hat zum Inhalt, wie Biermanns Freund Manfred Krug Biermanns Freund Robert Havemann erst mit dem dicken Westauto beinah hinten reinfährt und ihm dann eine reinhaut. Wird wohl so gewesen sein, Prädikat: beinahe köstlich.
Gewidmet ist das Buch seiner großen Liebe: Pamela Biermann
Biermann, der eigentliche Bühnenkünstler im Dienste der Musik, wäre nicht Biermann, wenn er still sitzen geblieben wäre, wenn er das, was er in der letzten Zeit so geschrieben hat und was jetzt als Buch erschienen ist, einfach so stehen gelassen hätte. Der kleine Mann mit dem großen Herzen, der so lustvoll fabulieren kann und der sich 1976 bei seinem berühmten Köln-Konzert um seinen noch kommunistischen Kopf und Kragen sang, anschließend ausgebürgert wurde, was wiederum zum langen Ende der DDR führte, dieser Mann versteht sich immer noch auf die eindringliche Ansprache. Und so sprach er, über die Bühne marschierend wie ein Schauspieler, von den Witzen, die Menschen, um das alles überhaupt irgendwie auszuhalten, im KZ machten. Er sprach über die vielen Reize der vielen Frauen. Und er sprach, um letzteres mit großer Geste null und nichtig zu machen, über die eine, die ihn einst sozusagen aus der Promiskuität befreit hat: Pamela Biermann. Ihr, seit Jahrzehnten privat und künstlerisch an seiner Seite, ist auch das neue Buch gewidmet. „Ich begriff mein halbes Leben lang nicht, dass ich in der Liebe zu der einen Frau existieren muss“.
Das war das Gegenprogramm zur maskulinen Gier, die einem im Buch entgegenschlägt, einer Gier, die auch eine Lebensgier ist und die dem privaten Biermann eine ebenso von Brüchen gekennzeichnete Vita beschert hat, wie sie dem politischen Biermann beschieden war. Für den jungen Joachim Lux, erzählte der ältere Joachim Lux, sei Biermann mit seinen kritischen Liedern ein Held gewesen. Das dürfte für viele Menschen seiner Generation gelten. Sie war es, die sich ganz überwiegend im Thalia eingefunden hatte. Schade, dass dieses dennoch bestenfalls halbvoll war. Am Signiertisch drängte es sich dann aber, das Publikum, das mit Biermann zusammen alt geworden ist.
Wolf Biermann: „Barbara. Liebesnovellen und andere Raubtiergeschichten“ Ullstein Verlag (288 Seiten), 20 Euro