Er war der bedeutendste Schriftsteller Deutschlands und als streitbarer Mahner jahrzehntelang eine öffentliche Figur.
Eines der populärsten Bücher von Günter Grass heißt „Mein Jahrhundert“, es erschien passenderweise und ausgerechnet 1999. In dem Jahr, das ein Jahrtausend beschloss (obwohl es ja eigentlich erst zwölf Monate später endete) und in dem Jahr, in dem Grass den Literaturnobelpreis erhielt.
Mit ihm endete also das literarische Jahrhundert: Welch’ prominenter Platz im Dichter-Olymp! Mochten Spötter auch sagen, man habe ihm den Lorbeerkranz nur wegen Verdiensten aufgesetzt, die lange her waren: 1999 war Grass, der jetzt in Lübeck im Alter von 87 Jahren gestorben ist, der Größte. Nicht nur ein Schriftsteller auf der Höhe seines Erfolgs, sondern eine exemplarische Figur. Ein Mann, dem nicht nur der Titel seines Erzählungsbands die Eigenschaft zuschrieb, ein Jahrhundert zu „besitzen“. Der die Wahrheit dieses Jahrhunderts kannte oder zu kennen beanspruchte, dieser Zeitspanne der Umbrüche und Katastrophen. Grass hatte eine Biografie, wie man sie nur im 20. Jahrhundert haben konnte. Er war ein Repräsentant des 20. Jahrhunderts.
Sein Wirkungskreis reichte weit über das literarische Feld hinaus
Grass wusste stets, dass Deutschland hörte, wenn er sprach. Und irgendwann, spätestens seit Ende der 80er-Jahre, wusste er, dass ihn dieses Deutschland nicht immer gerne hörte, ja auch nicht immer gerne las. Für Letzteres bürgen all die harschen, stellenweise verletzenden Verrisse, die im Laufe der Jahre über seine Bücher geschrieben wurden. Der streitbare Zu-Wort-Melder und Zwischenrufer Grass sah sich mindestens so großer Kritik ausgesetzt wie sein Werk – weil nicht jeder es mochte, wenn Grass der westlichen Welt verbal den Spiegel vorhielt. Und vielleicht auch, dass da immer einer mit gewaltigem Selbstbewusstsein sprach. Ein Mann mit Prinzipien und einer aus Erfahrungen und Verlusten gespeisten Anschauung, der für sich das Urteil über richtig und falsch gepachtet haben schien.
Kann man sich in Zukunft so einen noch denken, einen Sprecher aus den Reihen von Kunst, Intellekt und Kultur? Einen Vertreter der engagierten Literatur mit Massen-Appeal? Grass war so einer bis zuletzt. Er stammte aus einer Zeit, als Dichter grundsätzlich noch Deutungsaufgaben übernahmen und ihre Stimmen ohne multimediales Dauergesummse auf allen Sendern und Bildschirmen vernehmbar waren.
Der spätere Literatur-Nobelpreisträger Grass musste sich seine Lizenz zum Rechthaben und Rechthabenwollen verdienen. Es war „Die Blechtrommel“, die seinen Ruhm begründete, jener 1959 erschienene Schelmenroman, der die Geschichte des kleinwüchsigen Oskar Matzerath erzählte und die des deutschen Verhängnisses. Der Bremer Senat verweigerte dem ästhetisch anspruchsvollen Werk damals den Literaturpreis der Hansestadt. Der Erfolg dieses Debüts war dennoch gewaltig, er katapultierte Grass in den Rang des viel gelesenen Schriftstellers, der er über mehr als ein halbes Jahrhundert blieb. Mehr noch: Grass, Gesamtauflage 13 Millionen, wurde der einzig lebende deutschsprachige Autor von Weltrang, ein Exporteur deutscher Kultur.
Als Repräsentant einer Generation, die Weltkrieg und Holocaust erlebt hatte, wurde er in der Nachkriegszeit einer der führenden Intellektuellen Deutschlands, dessen Wirkungskreis weit über das literarische Feld hinaus wies. Grass, 1927 in Danzig als Sohn eines Kolonialwarenhändlers geboren, wurde immer wieder auch politisch zum Trommler, machte in den 60er-Jahren Wahlkampf für sein Idol Willy Brandt, trat in die „EsPeDe“ ein und wieder aus, wurde zum moralischen Gewissen der Nation, das für die einen zum notwendigen Inventar der Bundesrepublik gehörte, für die anderen nur eine Nervensäge war.
Grass trat für eine soziale Marktwirtschaft ein, er ergriff Partei für die Schwachen, erinnerte an die deutsche Verantwortung für ein Jahrhundertverbrechen. Und er sprach stets impulsiv und provokativ Dinge aus, seinen eigenen Status dabei nie unterschätzend. Da war es schon einmal so, dass er für sich, „soweit es einer einzelnen Person möglich ist“, die Nato-Mitgliedschaft kündigte – aus einer rührend konsequent-wirkungslosen anti-amerikanischen Protesthaltung heraus. Es ist bemerkenswert, wie pessimistisch das Weltbild von Grass, trotz allen Einsatzes, am Ende gewesen sein muss.
In seiner Novelle „Im Krebsgang“ schrieb er 2002: „Die Geschichte, genauer, die von uns angerührte Geschichte ist ein verstopftes Klo. Wir spülen und spülen, die Scheiße kommt dennoch hoch.“
Grass’ frühe Prägungen als Künstler gingen auf sein Studium der Bildhauerei und Grafik seit 1948 in Düsseldorf und Berlin zurück. Ab 1956 lebte er in Paris und arbeitete dort am Manuskript der „Blechtrommel“. Als zunächst schriftstellernder bildender Künstler, der Theaterstücke und einen Lyrikband veröffentlicht hatte. Erst mit dem Epochenbuch, das manchen heute als bedeutsamster Roman der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gilt, wurde Grass zum Schriftsteller, der außerdem malte, modellierte, gestaltete. Die „Danziger Trilogie“ („Die Blechtrommel“, „Katz und Maus“, „Hundejahre“) gehört zum Kanon der deutschsprachigen Literatur. Es zeigte den Fabulierer gleich zu Beginn seiner Karriere auf der Höhe seiner Kunst und schenkte der sich aufrappelnden Kulturnation einen modernen literarischen Realismus, der die jüngste Vergangenheit der Deutschen beleuchtete. Mit den Mitteln der Dichtung gelang es Grass, das neurotische Symptom des Täterlandes freizulegen: Erst im Zwiebelkeller können seine literarischen Figuren Tränen vergießen und an der NS-Vergangenheit leiden. Über weite Strecken war das 20. Jahrhundert in Deutschland eine mitleidlose Epoche.
Seit 1972 lebte Grass in Norddeutschland. Erst im schleswig-holsteinischen Wewelsfleth, dann, von 1984 bis 1986, in Hamburg. Die letzten drei Jahrzehnte verbrachte der achtfache Vater (sechs leibliche Kinder mit vier Frauen) in Behlendorf bei Lübeck. Zum urlauben fuhr der Star-Autor – ein solcher war Grass – an die Algarve oder ins dänische Møn. Dort trug sich 1995 ein kleines Drama zu, als Grass eine seiner schwersten beruflichen Krisen durchstehen musste. Sein Wende- und Fontaneroman „Ein weites Feld“ war von beinah allen wichtigen Kritikern zerpflückt worden. Allen voran von Marcel Reich-Ranicki (1920-2013), dessen mehrseitige, vernichtende Rezension im „Spiegel“ mit einer Montage auf der Titelseite korrespondierte, auf der der Scharfrichter das Buch zerriss. Aus Sicht des Literaturbetriebs muss einen das Getöse um das Werk und seinen Gegner nostalgisch machen – kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen, dass eine literarische Neuerscheinung so laut besprochen wird. Für Grass war die Affäre eine weitere schwere Kränkung. Bereits sein Roman „Die Rättin“ (1986) war von der Kritik nicht gut aufgenommen worden. Folgt man den Ausführungen seines Dichterfreunds Peter Rühmkorf, flüchtete sich Grass 1995, während in Deutschland Häme über ihn ausgegossen wurde, an seinem dänischen Ferienort in den Wald – um Bäume zu malen.
Man durfte sich Grass durchaus vom Schicksal Begünstigten vorstellen. Wenn er genug hatte vom Schreiben und allem, das dies mit sich brachte, arbeitete er als Bildhauer oder aquarellierte. Seine schönsten Bücher sind die, denen er wie „Fundsachen für Nichtleser“ eigene Zeichnungen beigegeben hat. Er wusste, was er mit seinen disziplinübergreifenden Fähigkeiten den Gegnern voraus hatte und schrieb in einem seiner Gedichte: „Meine Kritiker/wissen nicht/wie man das macht/Zaubern auf weißem Papier“.
Im Geistesleben Deutschlands taugte Grass für Skandale wie kaum jemand. Er schob Debatten an, war unbequem, mutig und herausfordernd – und er hatte den Mumm, völlig konträr zum Zeitempfinden den Spielverderber zu geben. Nach dem Mauerfall warnte er vor der Wiedervereinigung. Er erhoffte sich etwas Neues, den „Bund deutscher Länder“, er kritisierte „die Praxis deutscher Abwicklungsmaschinerie“ und die „Einheit ohne Einigung“.
Grass mahnte und warnte, er politisierte und brachte Themen aufs Tapet. 1997 hielt er die Laudatio auf Friedenspreis-Träger Yasar Kemal und sprach von der Abschiebepraxis der deutschen Behörden und den Waffenlieferungen der Regierung Kohl an die Türkei. Die Rolle des „Gewissens der Nation“ – ein Ehrentitel, der von vielen auch abwertend gebraucht wurde – spielte Grass bis 2006 überzeugend. Da kam sein wohl schwärzester Moment, als er in seinem autobiografischen Buch „Beim Häuten der Zwiebel“ seine einstige Mitgliedschaft in der Waffen-SS eingestand. Bei der Einberufung war er 17, an Kriegsverbrechen war Grass nicht beteiligt. Aber er hatte ein Leben lang über die Verstrickung geschwiegen, und das nahm ihm, der immerhin früh über seine Vergangenheit als begeisterter Hitlerjunge gesprochen hatte, die Öffentlichkeit übel. Dabei war Grass einer, der gegen das Vergessen und Verschweigen anschrieb. Immer.
Der nahbare Starautor hielt Kontakt zu den Lesern, reiste zu Übersetzern
Er tat das in seinen frühen und späten Büchern, in den gefeierten und von der Kritik geschmähten. Der Grass-Sound ist unverwechselbar geblieben bis zum Schluss. Barock, wollüstig, pornografisch, grotesk: So erzählte Grass. Er war das erklärte Vorbild der Schriftsteller-Kollegen Irving und Rushdie. Auf Workshops in Lübeck diskutierte Grass mit jüngeren Autoren literarische Fragen. Als Starautor war er nahbar: Er hielt Kontakt zu den Lesern, reiste zu Meetings mit Übersetzern und Verlagsvertretern nach Göttingen, dem Sitz des Steidl-Verlags. Sein letztes Buch „Grimms Wörter“ erschien 2010, eine Hommage an die wichtigsten Wortsammler der deutschen Sprache, eine Liebeserklärung an das Medium, in dem Grass zu dem wurde, was er war: einer, der in seinen Büchern mit der Welt, der Geschichte und sich selbst sprach, und der daran glaubte, dass man streitend die Wirklichkeit zum Besseren formen konnte.
Grass blieb als Schriftsteller und öffentliche Person bis zuletzt umstritten. Mit seinem Israel-kritischen Gedicht „Was gesagt werden muss“ provozierte er 2012 weltweit ein gewaltiges Echo. Das Prosawerk in Versen war inhaltlich ärgerlich, aber noch einmal ein echter Grass: Deutscher Intellektueller greift Israel an – Skandal garantiert.
Es stirbt ein Stück Debattendeutschland, ein Vertreter der Kriegs-Generation, ein Zeitzeuge: Drei Viertel des 20. Jahrhunderts und ein bisschen die Gegenwart des 21. Jahrhunderts hat Grass erlebt und kommentiert. Wie das immer so ist, werden jetzt auch die, die ihn nicht mochten, davon sprechen, dass man sich an ihm wenigstens noch reiben konnte. Und man wird ihn schnell vermissen, weil er Diskussionen anstieß, die ohne sein Zutun vielleicht nur im Verborgenen oder gar nicht geführt worden wären. So einer hinterlässt eine Lücke, natürlich.
Unmittelbar vor seinem Tod hat Günter Grass die Arbeit an seinem neuen Buch „Von Endlichkeit“ beendet. Es beinhaltet Lyrik und Prosa und sei „ein kleines literarisches Experiment“, sagt sein Verleger Gerhard Steigl. Der Band werde im Juli oder August erscheinen.