Hamburg . Erinnerungen an Günter Grass: Schnaps mit Ulrich Wickert, Biografisches mit Michael Jürgs, Sekt mit Joachim Lux.
Es war eines der berührendsten Bilder des Theaterabends. Als Günter Grass von Intendant Joachim Lux auf die Bühne geführt wurde, auffallend schwach, verschwindend schmal geradezu, auf seinen Stock gestützt, aber sichtlich guter Dinge, griff der Alte nach der Hand des Jüngsten. David Hofner, 10 Jahre, war zur Premiere der „Blechtrommel“ die Stimme des Oskar Matzerath, hell, klar und eindringlich, und Grass, 87 Jahre, ganz Brille und Schnauzbart, nahm zum Schlussapplaus auf der großen Bühne des Hamburger Thalia Theaters seine Hand, drückte sie fröhlich und verbeugte sich gemeinsam mit dem scheu lächelnden Jungen.
Es war, am letzten Märzsonnabend, Grass’ letzter öffentlicher Auftritt. Ein nachwirkender Moment, ein versöhnlicher Abschied und auch ein bezeichnendes Bild. Reich-Ranicki, Lenz, Raddatz. Jetzt Grass. Mit dem Lübecker Literaturnobelpreisträger geht nicht nur ein Schriftsteller. Es geht eine Zeit, eine ganze Epoche. Es verschwindet eine Art, Literatur zu denken, zu leben und zu vermitteln, es verschwindet auch die Selbstverständlichkeit, mit der ein Schriftsteller in Deutschland als Intellektueller wahrgenommen wird – und sich auch so präsentiert. Es verschwindet, vielleicht, nicht weniger als der Einfluss der Literatur auf das deutsche Geistesleben.
„Klugscheißereien“ hatte Willy Brandt, der eine ausführliche Brieffreundschaft mit Grass pflegte (in der, wen wundert es, der Schriftsteller der deutlich aktivere Part war), das einmal wunderbar deftig in seinen Notizen formuliert. In der Tat konnte Grass eine rechte Nervensäge sein. Bis zuletzt hat er sich unermüdlich zu Wort gemeldet, zu diesem und zu jenem Thema, gefragt oder ungefragt, und sich folgerichtig und noch vor einigen Wochen wieder beschwert, wie wenig sich der junge Autorennachwuchs politisch einmischt und wie wenig die Kollegen, wenn sie es denn tun, überhaupt Gehör finden.
Es waren die Männer, die da früher in ihrem Pfeifendunst unter sich waren
Es sei nicht mehr seine Zeit, hatte der Feuilletonist Fritz J. Raddatz kurz vor seinem Tod gesagt und sich entschieden, freiwillig aus dieser ihm fremd gewordenen Zeit zu scheiden. Was er – zu seinem Missvergnügen ausgerechnet an sich selbst – beobachtet hatte, ist eben auch dieses Anachronistische, das die alten Männer der Literatur zuletzt umgab. Und es waren ja vor allem Männer, die da früher in ihrem Pfeifendunst unter sich sein konnten, die – Siegfried Lenz war die milde, freundliche Ausnahme – störrisch und hartnäckig und eitel und bestimmt und nicht zuletzt: ausgesprochen unterhaltsam ihre Meinungen mit der Öffentlichkeit teilten. Über Literatur, über das durchaus auch geschwätzige literarische Leben, über Politik und Gesellschaft, über ihre Freundschaften und Feindschaften, die sie gleichermaßen hingebungsvoll pflegten. Na, die Feindschaften vielleicht noch etwas hingebungsvoller.
Ranicki, Raddatz, Lenz, Grass. Denker und Schreiber und Sendungsbewusste, deren Beruf niemals Privatsache war. Und die uns, der deutschen Öffentlichkeit, viel mehr fehlen mögen, als wir es vielleicht je bemerken werden.