Hamburg. Der belgische Regisseur Luk Perceval bringt am Thalia Grass’ „Die Blechtrommel“ heraus - mit der 72 Jahre alten Barbara Nüsse als Oskar.

Seinen Hut behält er auf. Ohne Kopfbedeckung trifft man ihn nie, den belgischen Regisseur Luk Perceval. An diesem Sonnabend bringt der Oberspielleiter des Thalia Theaters eine Dramatisierung von Günter Grass’ Roman „Die Blechtrommel“ auf die Bühne. Zwischen zwei Proben am Alstertor isst Perceval in der „Weltbühne“ ein großes Thunfisch-Sandwich, trinkt dazu Ingwertee und spricht über Kleinbürgertum, die von ihm weiblich besetzte Rolle des Oskar Matzerath und eine Begegnung mit Günter Grass.

Hamburger Abendblatt: Johan Simons hat am Thalia Theater Lenz’ „Deutschstunde“ inszeniert, Sie bringen jetzt Grass’ „Blechtrommel“ auf die Bühne. Warum legt das Thalia den Fokus in dieser Spielzeit auf Romane, die im Zweiten Weltkrieg spielen?

Luk Perceval: Da sich das Ende des Zweiten Weltkrieges in diesem Jahr zum 70. Mal jährt, wollte Intendant Joachim Lux das in seiner Programmierung thematisieren. Diese Vorkriegszeit hat sehr viel Ähnlichkeit mit heute. Der Zeitfaden der „Blechtrommel“ beginnt vor dem Zweiten Weltkrieg und endet, als die Hauptfigur Oskar Matzerath ­etwa 30 Jahre alt ist. Bei uns ist er am Ende 70. Das ergibt die Frage: Was bleibt von dem Menschen 70 Jahre nach dem Krieg übrig?

Oskar Matzerath stammt aus einer kleinbürgerlichen Familie. Welche Rolle spielt das heutige Kleinbürgertum in Ihren Überlegungen?

Perceval: Es existiert zwar noch, aber nicht mehr in dieser verklemmten und verlogenen Form, wie Grass es beschreibt. Die Generation unserer Großeltern hat versucht, frei von jeder Ideologie zu überleben. Das Schlimme daran war, dass die Menschen sich unpolitisch verhalten haben und dadurch die Grausamkeiten des Nazi-Regimes ermöglicht haben.

Ist die Pegida-Bewegung mit diesem kleinbürgerlichen Denken zu vergleichen?

Perceval: Ja, es ist genau das Gleiche. Angst regiert den Menschen. In seiner Überlebensstrategie wird er völlig egoman.

Woher kommt die Angst?

Perceval: Wir leben in einer Gesellschaft, in der die Angstkultur sehr ausgeprägt ist. Ob Ukraine, IS, Bankenkrise oder Arbeitslosigkeit, die Leute fühlen sich von allen Seiten bedroht.

Warum sind Muslime zu einem Feindbild in vielen westlichen Gesellschaften geworden?

Perceval: Alles, was gegen Amerika und den Großkapitalismus gerichtet ist, wird zur Zeit als Terrorismus bezeichnet. Ukraine, IS und Afrika – alles wird auf einen Haufen geworfen zum großen Terror-Monster. Uns wird glauben gemacht, dass jeder Mensch mit Kopftuch zur IS gehört. Das ist gefährlich. Diese Art von Prägung gab’s auch kurz vor dem Ersten und kurz vor dem Zweiten Weltkrieg. Ich habe sehr oft Angst, dass diese ganze Stigmatisierung sich ­irgendwann grausam entwickeln kann. Ohne die afrikanischen Kolonien hätte mein Heimatland Belgien nicht überleben können. Rassismus und Menschenverachtung sind der Preis für unseren Wohlstand.

Das Kind Oskar Matzerath wird in Ihrer Inszenierung von der 72 Jahre alten Barbara Nüsse gespielt. Warum?

Perceval: Wenn ich an Oskar Matzerath denke, denke ich sofort an Barbara Nüsse. Sie ist für mich mit ihrer Neugier und Energie immer Kind geblieben. Am meisten hat mich an dieser Figur ihre Einsamkeit interessiert. Eigentlich ist die „Blechtrommel“ eine Geschichte über ein sehr einsames Kind: Die Mutter hat zwei Männer und ist mit ihnen beschäftigt; die Schule sagt, Oskar ist behindert; keiner kann etwas mit ihm anfangen, niemand bringt ihm Lesen bei. Oskar spricht ganz selten, meistens beobachtet er die Welt und was außerhalb passiert.

Das ist schon eine völlig andere Sicht, als Grass sie in der doch sehr bösartigen Figur angelegt hat. Oskar ist eigentlich kein Sympathieträger.

Perceval: Mich interessiert immer – egal, ob ich Shakespeare oder Grass inszeniere – was bedeutet das für uns heute? Wo steckt der Oskar Matzerath in mir? Der Kleine ist bei Grass ein ziemliches Ekel, der Hybris hat, alles besser weiß, unerträglich schreit und dauernd trommelt. Eigentlich möchte man so ein Kind nicht in der Familie haben. Das Mitgefühl stellt sich erst ein, wenn man seine Zweifel, seinen Kampf, und das, was man menschlich nennt, zeigt. Das haben wir in Oskar gesucht und deshalb eine Schauspielerin genommen, die noch mal 40 Jahre älter ist als Oskar am Ende des Romans.

Sie haben Grass mit dem Ensemble in ­Lübeck getroffen. Welche Fragen haben Sie ihm gestellt?

Perceval: Zum Beispiel, wie man ein Buch von 800 Seiten auf zwei bis drei Stunden herunterschneiden soll. Er hat ein paar Szenen genannt, die im Stück drin sein müssten. Bis auf eine hatten wir alles, was er gesagt hat. Wichtig war mir, alle emotionalen Momente des Romans im Stück zu haben. Ich bin ein Künstler, der versucht, etwas Eigenes zu machen und es emotional umzusetzen. Als Regisseur kannst du nur etwas erzählen, das dich auch berührt.

Haben Sie als Belgier einen anderen Blick auf Deutschland und können ein Werk wie die „Blechtrommel“ anders inszenieren, weil Sie frei von der historischen Schuld der Deutschen an Krieg und Shoah sind?

Perceval: Die Schuldfrage stelle ich mir nicht. Ich schließe mich Dostojewski an, der gesagt hat: „Schuld haben wir eigentlich alle.“ Wir sind zum Beispiel mitschuldig daran, dass Afrika ausgebeutet wird, wo Menschen unter unwürdigen Bedingungen nach seltenen Bodenschätzen suchen müssen, die später im Westen teuer verkauft werden.

Wollen Sie mit Ihren Theaterarbeiten auch ein historisches Verständnis vermitteln?

Perceval: Das geht gar nicht, dafür ist die Zeit auf dem Theater zu kurz. Im Theater kann man den Versuch unternehmen, dass wir uns als Zuschauer identifizieren und über diese emotionale Identifikation ein Mitgefühl erzeugen. In diesem Mitgefühl liegt für mich eine Möglichkeit, Frieden zu finden.

Dem Thalia ist einmal der Vorwurf gemacht worden, durch Stoffe wie die von Fallada, Lenz und Grass „Abiturtheater“ zu machen. Ist der Vorwurf gerecht?

Perceval: Theater hat einen Hang zur Nostalgie. Und man darf nicht vergessen, dass wir wirtschaftlich von den Zuschauern abhängig sind und jeden Abend 750 Zuschauer brauchen. Bei „Hamlet“ kommen sie, bei der „Blechtrommel“ auch, weil sie vielleicht den Film in Erinnerung haben. Wir brauchen aber natürlich auch neues Publikum. Die Schulen leisten eine Menge, weil sie junge Leute auf Kultur und ­Literatur vorbereiten und sich damit auseinandersetzen. Wenn „Abiturtheater“ heißt, junge Menschen in die Theatersäle zu holen, ist das doch eigentlich eine gute Sache.

Bei der Probe ist mir gerade aufgefallen, dass viele Ton- und Lichtsequenzen 21 Sekunden lang sein müssen. Warum?

Perceval: Meine Glückszahl ist 7, deshalb sind Einspieler 7, 14 oder 21 Sekunden lang. Ich komme aus der Fußballwelt, da steckt viel Aberglaube drin.

Die Blechtrommel Thalia Theater, Premiere am 28.3., 19.30 Uhr; weitere Vorstellungen: 29.3., 19 Uhr, 2. und 7.4., 19.30 Uhr, Karten unter T. 32 814-444