Nein, hatte er damals am Telefon gesagt, nein, das könne er sich eigentlich kaum vorstellen, dass ich seine Biografie schreiben wolle. Er lebe schließlich noch und überhaupt sei ihm das viel zu privat. Ich dürfe aber versuchen, seine Meinung zu ändern. Dann beschrieb mir der erfahrene Beifahrer, der keinen Führerschein besitzt, den Weg nach Behlendorf, wo er in einem ehemaligen Forsthaus nahe dem Elbe-Trave-Kanal wohnte, und als ich dann bei ihm saß, beroch er mich auf seine Art. Das dauerte. Er suchte meine schwache Stelle und ich suchte seine, aber ich fand seine schwächste nicht.

Als es bei einem Sommergewitter und prasselndem Regen schon nachmittags fast dunkel wurde im Behlendorfer Atelier, lotste mich seine Stimme in eine andere Welt. In die eines Geschichtenerzählers, der kein Tageslicht brauchte, denn Sprachverführer wie Grass konnten schon immer im Dunkeln gut munkeln. „Ich gebe kein Bild ab. Sinnlos, mich auf einen Nenner bringen zu wollen“, warnte er dichtend, und wenn ein Haus zwei Ausgänge habe, dann suche er den dritten.

Ich suchte den Eingang.

Als Günter Grass von seiner Mutter sprach, wurde seine Stimme weich. Sein Selbstbekenntnis vom Mutterkomplex war nicht ironisch gemeint. Der achtfache Vater, Großvater von damals fünfzehn Enkeln, blieb der kleine Junge aus dem Danziger Labesweg immer dann, wenn er sie schreibend, erzählend unsterblich machte. Nach Erscheinen meines Buches „Bürger Grass – eine deutsche Biografie“ schrieb er mir, zwar sei zu viel privates „Gewese“ beschrieben, aber insgesamt sei es wohl gelungen.

Als er bekannte, bei der Waffen SS gedient zu haben und ich mich empörte, enttäuscht gleichfalls von mir selbst, weil ich nicht auf die Idee gekommen war, ihn danach zu fragen, herrschte ab 2007 zwischen uns Kalter Krieg. Sein längst verstorbener Lektor Helmut Frielinghaus, der ihn jetzt im Club der toten Dichter empfangen wird, ein hoch gebildeter Mann, dem Autodidakten GG treu und nahe, mir nicht feindlich gesinnt, versuchte vergeblich zu vermitteln.

Viele Jahre später, beim Fest zum siebzigsten Geburtstag seines Freundes Manfred Bissinger, flüsterte mir Eva Rühmkorf zu, ich möge an die Bar gehen, dort stünde allein Grass, der genau um Mitternacht seinen 83. Geburtstag beginge. Ich zögerte. Sie drückte mich zweimal auffordernd in den Arm. Ich stand auf und ging hin. Grass blickte hoch und sagte: „Mein Lieber, wollen wir wieder Frieden schließen?“

So beschlossen wir es und tranken darauf. Als wir das Glas geleert hatten, fing der Alte an zu erzählen, und erst dann, wenn wir uns dereinst wieder treffen, werde ich das Ende seiner Geschichte erfahren.

Michael Jürgs, Publizist