Seit Jahrzehnten wird in Hamburg dasselbe Stück aufgeführt. In Hamburg hat man das Gefühl, den 20. Trojanischen Krieg in Folge zu sehen. Betrachtungen eines enttäuschten Zuschauers.
Das Stück, das sie derzeit wieder in Hamburg aufführen, kann auch wirklich nur hier spielen. Nicht weil in dieser Stadt das älteste Sprechtheater Deutschlands steht und mit dem St. Pauli Theater das älteste Privattheater dazu, nicht weil diese Stadt eine Theaterstadt ist, durch und durch. Sondern weil nur diese Stadt dem Theater eine solche Bühne bietet: Linksautonome gegen die Polizei, die Polizei gegen die Bevölkerung, die Bevölkerung gegen die Bevölkerung.
Es ist die einzige Stadt in Deutschland, in der seit Jahrzehnten dasselbe Stück gezeigt wird, ohne dass sich die Akteure daran stören, es ist die einzige Stadt, in der man die Uhr danach stellen kann, wenn die politischen Diskussionen mal wieder ein bestimmtes Niveau erreichen, wenn es der eigentlichen Provokationen gar nicht mehr bedarf. Dann weiß jeder in Hamburg: Bald knallt es. Die Lust am Spektakel wächst. Die Akteure wissen, was zu tun ist: Sie spielen ihre Rollen mit einer Routine, dass man sich als Kritiker mitunter fragt: Können die ihre Texte nicht schon im Schlaf? Wer besetzt da eigentlich die Hauptrollen? Wer führt Regie? Und wer hat Interesse an der Inszenierung?
An dieser Stelle muss Amelie Deuflhard sogar ein bisschen lachen. „Ja, gute Frage“, sagt sie, die Intendantin von Kampnagel. Hier, auf den großen und kleinen Bühnen der internationalen Kulturfabrik, wird regelmäßig Gesellschaftskritik geübt – in den Stücken und Choreografien, aber auch im hauseigenen Newsletter. Besonders der letzte sorgte für Aufsehen. Es war ein offener Brief an Bürgermeister Olaf Scholz und Innensenator Michael Neumann. „Wir wundern uns, Olaf und Michael: Was ist denn los mit Euch?“, fragten die Autorinnen des Briefs (es waren die Dramaturginnen von Kampnagel): „Woher dieser Kontrollwahn, diese Aufrüstung der Polizei? Da werden frühkindliche Erinnerungen vom Spielplatz bei uns wach, wenn ein anderes Kind uns die Schaufel entrissen hat. Zugegeben, da wollten auch wir mal zuschlagen und die Faust ballen, um unsere Schaufel zurückzubekommen.“
Eine Kampfansage – nicht ohne Versöhnungsangebot am Schluss. Amelie Deuflhard sagt, dass man für den Brief viel Lob und viel Kritik bekommen habe, über 500-mal sei er in den sozialen Netzwerken geteilt worden. Seitdem ist eine Menge passiert. Gefahrengebiete wurden ausgewiesen und wieder aufgelöst. „Wer das alles inszeniert hat? Na ja, der Polizeipräsident war es nicht, der war ja im Urlaub, und der Innensenator sagt, für Gefahrengebiete sei die Polizei zuständig. Das ist doch der Wahnsinn – da beschneidet man die Freiheitsrechte von unschuldigen Bürgern, und niemand ist parlamentarisch verantwortlich. Das gibt es nicht mal in Bayern.“
Amelie Deuflhard ist nicht die Einzige, die im Dunkeln tappt. Niemand versteht so richtig, warum sich Hamburg derzeit wieder anfühlt wie zu Hafenstraßenzeiten. Warum das alles wieder so eskalieren musste. Nie standen die Chance besser, in Hamburg mal ein anderes Stück aufzuführen. SPD und CDU äußerten sich versöhnlich in Richtung der Flora-Besetzer, nichts deutete auf eine abermalige Eskalation hin.
Aber Scholz ist nicht Hektor, und das hier in Hamburg ist auch keine Neuinszenierung des Stücks „Der Trojanische Krieg findet nicht statt“ von Jean Giraudoux. Das ist ein geistreiches, ein ironisches und für das Jahr seiner Uraufführung, 1935, ein beeindruckend mutiges Stück über zwei Kriegsherren – Hektor und Odysseus –, die keinen Krieg wollen, die sich diesen ganzen vorhersehbaren Provokationen einfach entziehen. Bis Hektor einen der Kriegstreiber erschlägt, weil er es nicht mehr erträgt. Und schon ist der Krieg nicht mehr aufzuhalten – wenn beide Seiten ihn wollen, braucht es halt nicht besonders viel.
In Hamburg hat man das Gefühl, den 20. Trojanischen Krieg in Folge zu sehen. Kein Wunder, die Rollen sind ja auch seit 20 Jahren einstudiert. Die Handelnden spielen sie mit einer Routine, die den interessierten Zuschauer zum Gähnen bringen könnte, wäre er nicht so fassungslos. Fassungslos ob des mangelnden dramaturgischen Fingerspitzengefühls: Vor Lampedusa ersaufen die Menschen, und Hamburgs Polizei kontrolliert die Schwarzen auf dem Kiez. Ja, das hätte man vermeiden können. Einen Verfall der Esso-Häuser wahrscheinlich auch. Und vielleicht wäre es eine gute Idee gewesen, eine weniger eskalierende Polizeistrategie für die Demonstration am 21. Dezember zu wählen.
Wer gibt Spektakel-Bremsen schon eine Rolle, wenn alles im Eklat enden soll?
Darüber spricht aber niemand mehr. „Menschen, die Gewalt ausüben wollten, haben die Diskussionen über die Esso-Häuser, über Arbeitsmigranten aus Westafrika und die Rote Flora missbraucht“, sagte Innensenator Neumann im Gespräch mit dem Hamburger Abendblatt. „Man sollte diese Menschen nicht dadurch adeln, dass man ihnen politische Motive unterstellt.“ So funktioniert Eskalation, auch im Theater: Man spricht nur noch über das, was auch bestimmt zur Eskalation führt. Ganz und gar nicht spricht man über all jenes und jene, die wiederum gern mal mit ihrer Regierung sprechen würden – über das, was in ihren Augen in dieser Stadt falsch läuft. Am 21. Dezember standen eine Menge von ihnen mit am Schulterblatt. „Es ging bei der Demonstration nicht wirklich um politische Gründe“, sagte Olaf Scholz jüngst der „Süddeutschen Zeitung“. Diese Aussage ist schlicht nicht wahr.
Die friedlichen Demonstranten sind die Verlierer der aktuellen Inszenierung. Was aber wäre ihre Funktion gewesen? Die der deeskalierenden Masse, und klar, wer gibt Spektakel-Bremsen schon eine tragende Rolle, wenn doch alles im Eklat enden soll? Aber wie die Massen so sind, sie haben sich trotzdem Zutritt zum Zuschauerraum verschafft, sie hatten Klobürsten und Kissen dabei und brüllen ständig etwas auf die Bühne. Sie möchten sich auseinandersetzen. Nicht mit der Polizei – mit der Politik. Sie würden gern mal über Inhalte sprechen und nicht über die unsäglichen, unpolitischen Krawalltouristen. Es sind Bürger dieser Stadt, die mit der Haltung des Senats gegenüber Flüchtlingen nicht einverstanden sind, die im Abriss der Esso-Häuser ein Symbol für eine gescheiterte Stadtentwicklung sehen. Und was wäre das für eine Chance gewesen – mit ihnen zusammen ein Stück aufzuführen, das es so in Hamburg noch nicht so oft gegeben hat: „Der Krieg um den Kiez findet nicht statt.“ Hektor hätte seine Contenance bewahrt, die Theatergeschichte hätte neu geschrieben werden müssen.
Doch stattdessen? Kehren jetzt alle die Scherben zusammen. Das Publikum steht enttäuscht vor dem Theater – schon wieder servieren die uns dieselbe Nummer. Dabei klang der Titel des Stücks dieses Mal gar nicht so schlecht: „Gutes Regieren“.
„Und was haben die Gefahrengebiete am Ende gebracht?“, fragt Amelie Deuflhard und zieht hörbar die Luft ein. „Also außer einer Menge Kosten und schlechten Kritiken aus ganz Deutschland?“ Nein, in Hamburg hätte das Publikum ein anderes Theater verdient.