Das Reeperbahn Festival, das auf St. Pauli zum 5. Mal fast 190 Bands auf mehr als 20 Bühnen präsentierte, hatte seine ganz eigenen Sprachen.
Hamburg. "Übersetzt du etwa alles, was ich sage, ins Deutsche?" fragte Chilly Gonzales und grinste breit über sein schiefes Gesicht. An diesem Sonnabend, um Mitternacht auf St. Pauli, rann dem Kanadier bereits der Schweiß auf seinen Bademantel. Als Rapper am Flügel hatte der Anarcho-Entertainer die Menge in den Fliegenden Bauten mit Klavier- und Wortspiel in Ekstase versetzt. "Nein, ich übersetze alles ins Russische", entgegnete der Fan.
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Das Reeperbahn Festival, das von Donnerstag bis Sonntag früh auf mehr als 20 Bühnen fast 190 internationale Bands präsentierte, ist auch ein Rede-Festival. Zu den Klängen gehört die Kommunikation, zum Sound das Sprechen, zu Übersee die Übersetzung.
Doch auch auf Hardcore-Bayrisch wurde Verständigung schwierig. Stefan Dettl, Sänger von La Brass Banda, redete viel. Zu verstehen war es für Norddeutsche nicht. Die Botschaft seiner Blaskapelle kam dennoch an. Das Publikum in der Freiheit reagierte aussagekräftig und hüpfte eine Stunde lang. Da sagten Füße mehr als tausend Worte.
Wenn in drei Nächten so viel Folk, Elektro, Rock und Punk zu erleben ist, ist jede Unterhaltung zugleich Nach- und Vorbereitung. "Was hast du gerade gesehen? Was schaust du dir noch an?" Doch die Gespräche in diesen Pop-getränkten Stunden zwischen Feldstraße und Elbe, sie waren mehr als bloßes Fabulieren zur Feierei. Jeder der 17.000 Festivalgänger ist zugleich Kritiker.
"Digger, hör auf die Texte, die sind geil", schrie einer seinem Kumpel in der Freiheit ins Ohr. "Der soll gut sein", raunte ein Anfang Fünfziger seiner Gattin zu. Die Rede war von Hamburgs Vorzeigebarden Gisbert zu Knyphausen. Bei der Hamburg-Schnulze "Kräne" wurden die Feuerzeuge rausgeholt. Eine schöne Sprache. Nonverbal.
Andere lobten deftiger. "Fucking Molotow!" johlte ein Hamburg-Besucher, dem der Mythos des Kiezklubs nicht verborgen geblieben war. Vor allem oben in der Bar ließ sich eines üben: Körpersprache. Ein Ort für jene, denen die Leiber der anderen dann am genehmsten sind, wenn sie an einen gepresst werden. Beim Gig von Videoclub fiel das Publikum in die Band und umgekehrt. Letztlich war und bleibt das Wichtigste der Dialog zwischen Künstler und Fan. Und der legendäre Funke, er sprang oft über bei diesem Festival.
Mal rührend und mitreißend wie im Docks bei Indierock-Legende Edwyn Collins, der nach zwei Schlaganfällen seine künstlerische Sprache neu fand. Mal einfach auf der Straße. Vor dem Fachgeschäft "Sexy Heaven" sang die Formation Klein auf einer "wandernden Bühne". Mitten auf dem Spielbudenplatz brachten die Holländer The Palookas mit viel Blechdonner einen Ska-Bus zum Beben. Und an der Ecke Hein-Hoyer-Straße mischten sich die Beats einer improvisierten Lounge mit der akustischen Gegenoffensive von der Pinte gegenüber. "So ein Tag ..." im Remix. Eine Konversation der Welten, wie nur der Kiez sie formulieren kann.
Im Imperial-Theater hingegen ließen für Wortkargheit bekannte Countrybands Folk-Preziosen sprechen. Der vielstimmige Wüstenblues der Treetop Flyers sorgte für Momente der Wärme. Und die Jungs von Musée Mécanique artikulierten sich über singende Säge und Hände, die auf Schenkel schlugen. Die Band aus San Francisco kreierte feine Soundgewebe, die so gar nicht zur lärmenden geilen Meile passen wollten.
Doch auf der Straße, da traf sich unter anderem auch die Branche. Denn zwischen Kiezklubs und am Tresen lässt es sich viel vortrefflicher netzwerken als an spröden Musikmarkt-Messeständen. All die Plattenfirmen-Menschen, Promoter und Pop-Künstler, die Journaille und die Konzertveranstalter sammelten eifrig Visitenkarten und Telefonnummern, während sie da trinkend, rauchend und redend auf dem Kiezpflaster standen. Das Grundrauschen der Multiplikatoren. Doch auch die Fans betrieben ganz nebenbei ein vorzügliches Hamburg-Marketing.
Zwei Mädchen mit Plastikbrillen hockten im Grünspan auf dem Boden, fotografierten sich und prusteten los beim Betrachten ihrer Schnappschüsse. Hunderte Fotos wie diese werden dieser Tage im Internet bei Facebook hochgeladen und produzieren so ein Album der Stadt, wie es sich keine Tourismusabteilung ausdenken kann.
Viral wird diese Vermarktung genannt. Eine Sprache, die auch im Pop immer subtiler funktioniert. Eine Turnschuh-Firma etwa hatte zur "Stillen Nacht" geladen, wo sich Sponsoring und Hedonismus vergnüglich die Hand reichten. Und auch die Dezibel-Sheriffs der Stadt waren glücklich. Denn auf der zum Leisetreten verdammten Open-Air-Bühne vor dem Schmidt-Theater tanzten Nachtschwärmer zu DJ-Sets, die sie ganz für sich hörten. Jeder Einzelne über Kopfhörer. Ein öffentliches Kokooning. Das Rede-Festival, da kam es zum Schweigen. Auch das ist golden.
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