Sie wurde als das „blonde Dummchen aus der Pfalz“ belächelt. Fast genau zehn Jahre nach ihrem Freitod entsteht durch zwei Biografien ein neues Bild.
Am 5. Juli 2001, gegen 12 Uhr mittags, bekam Walter Kohl in seinem Frankfurter Büro einen Anruf von Juliane Weber, der langjährigen Büroleiterin seines Vaters. "Walter, deine Mutter ist tot." Sein erster Gedanke war: "Mutter hat von sich aus einen Schlussstrich gezogen." Hannelore Kohls Suizid war der Beginn einer langen Aufarbeitung. Mehr als 16 Jahre hatte die Republik das Bild einer heilen Familie. Jetzt wurde es geschreddert, so brutal wie bei keinem anderen Spitzenpolitiker. Nicht mal bei Brandt, auch nicht bei Schröder. Nach der jüngsten Abrechnung des Sohnes Walter Kohl mit dem Vater setzt der Journalist Heribert Schwan jetzt die Mutter mit einer Biografie in ein neues Licht. Und je tiefer das Renommee Helmut Kohls als Ehemann und Vater dabei sinkt, desto mehr wird Hannelore Kohl zur Heroine.
Sie war keine einfach gestrickte Persönlichkeit. "Für mich war klar, dass diese rätselhafte, zum Teil maskenhafte Frau an Helmut Kohls Seite viele Fragen aufwarf", sagt Heribert Schwan im Gespräch mit dem Abendblatt. "Mich hat immer gestört, dass die Klischees über sie von einer Journalistengeneration zur nächsten getragen wurden. Sie war anders als das, was ich vor allem in den Boulevardzeitungen über sie las."
Maskenhaft. So wirkte sie auf viele, als Helmut Kohl 1969 Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz wurde und sie als junge Landesmutter auf der politischen Bühne erschien. 36 Jahre alt, auf eine biedere Art schick gekleidet, die langen blonden Haare frisch onduliert, das Lächeln wie festgefroren. Hannelore Kohl musste sich damals damit abfinden, dass die Ämterhäufung ihres Mannes weder ein normales Familienleben zuließ, noch dass sie auf die Entscheidungen ihres Mannes im Politikbetrieb Einfluss hatte, so Schwan. 1975 erfuhr sie von der Nominierung ihres Mannes als Kanzlerkandidaten aus dem Radio - er hatte sie vorher nicht informiert. Trotz ihrer Enttäuschung tat sie, was sie immer tat: Sie unterstützte ihn, warf sich mit aller Kraft in den Wahlkampf. Und setzte auf ihre Maxime: Wenn ich alles richtig mache, dann wird alles gut.
"Hannelore Kohl hatte verinnerlicht, was Bürgertöchter zu Hause gelernt hatten: dass man das Wertekonzept des Mannes mittragen muss. Und dazu gehörten Bescheidenheit, Verzicht und die Bereitschaft, die eigene hoch qualifizierte Ausbildung wegzuwerfen, um ihrem Mann eine Karriere zu ermöglichen", sagt Gertrud Höhler, die Hannelore Kohl oft begegnete. "Sie hat wie viele Frauen von Spitzenpolitikern unterschätzt, dass ihnen die Verwirklichung des erfolgreichen Mannes nicht das Lebensglück bringt, das sie sich erhofft hatten."
Nicht mal das Blitzlichtgewitter der Fotografen hatte es geschafft, die Lebenskulisse dieser Frau auszuleuchten. Sie selbst wollte es nicht, sie fühlte sich sicher hinter der Fassade aus Pflichterfüllung und Optimismus.
Heribert Schwan zeichnet ihre behütete, ausgesprochen komfortable Kindheit in Leipzig nach, als ihre Eltern Wilhelm und Irene einen großbürgerlichen Haushalt führten. Wilhelm Renner, Direktor des Leipziger Rüstungsbetriebs HASAG, und seine Frau waren überzeugte Nazis. Dass Hannelore Kohl davon wusste, bezweifelt Schwan. Wie in so vielen Familien wurde darüber später nie geredet.
Auch über die Traumata, die das Mädchen am Ende des Krieges erlebte, wurde nie geredet. Nicht über die Toten, Verwundeten, Verstümmelten, die sie sah. Und nicht über das Furchtbarste: die mehrfache Vergewaltigung Hannelores durch russische Soldaten. Sie habe das auf einem ihrer gemeinsamen Spaziergänge "bestätigt, jedoch ohne Details zu nennen", sagt Schwan.
Dieses Trauma, sagt Schwan, habe sie verkapselt. Sie habe damals die Erfahrung gemacht, es sei besser, Traumata wegzudrücken, kein Licht in die eigene Gefühlswelt hineinzubringen. Aber ein Trauma wirkt nach, auf vielfältige Weise und ohne Willenssteuerung.
Wie so viele Mädchen ihrer Generation konnte Hannelore nicht wie gewünscht studieren (Mathematik), sondern musste mit einer Dolmetscherschule vorliebnehmen. Als der geliebte Vater 1952 starb, musste sie allein den Unterhalt für sich und ihre Mutter verdienen und begann als Auslandsstenotypistin bei der BASF. Helmut Kohl, den sie mit 15 Jahren bei einem Tanztee in Ludwigshafen kennengelernt hatte, wurde ihr weißer Ritter. Als die beiden 1960 heirateten und in das mühsam finanzierte erste Haus zogen, war es Hannelores 17. Umzug im Leben.
Sie tippte seine Seminararbeiten, seine Doktorarbeit, später seine Reden, sie redigierte seine Bücher, sie machte Wahlkampf für ihn. "Wenn ich mich nicht so völlig auf meinen Mann eingestellt hätte, wäre unsere Ehe schiefgelaufen", sagte sie einmal. Ihr oberstes Ziel war "die gesicherte und kultivierte bürgerliche Existenz ihrer Familie", schreibt ihr Sohn Walter. Dafür wurde sie "zur Meisterin der Vielseitigkeit: Nach außen hin konnte sie kantig und kämpferisch sein, gerade wenn es um uns Kinder ging. Im Binnenverhältnis polierte sie ständig seelische Oberflächen, ebnete Konflikte ein und ging schmerzenden Fragen aus dem Weg." Der Preis waren faule Kompromisse.
Noch bevor Helmut Kohl 1982 Helmut Schmidt als Bundeskanzler ablöste, wurde das Haus in Oggersheim zu einer "Hochsicherheitsbude" umgestaltet, wie Hannelore Kohl sarkastisch bemerkte. Bewacher brachten die Söhne zur Schule, auf der Straße spielen war nicht drin. Parallel zu der martialischen Abschottung musste aber immer wieder fröhlich-intaktes Privatleben nach außen demonstriert werden - vor allem während des Urlaubs. Seit 1962 machten die Kohls jedes Jahr Sommerferien in St. Gilgen am Wolfgangsee, bis zu ihrem Tod. Und jedes Jahr die gleichen Fotos: Kohl, wie er seine Frau über den See rudert. Familie Kohl beim Halmaspiel. Frau Hannelore stets mit gusseisernem Lächeln. Diese immer gleichen Fotos sind fast ikonografische Belege für eine bundesdeutsche Scheinwirklichkeit. Denn Helmut Kohl empfing in St. Gilgen Parteifreunde und Wirtschaftsführer, telefonierte, leitete Gespräche, gab Interviews. Sie habe diese "Urlaube" gehasst, sagt Schwan, aber sie habe aus Loyalität immer mitgemacht.
Als Kohl die Bundesbühne betrat, wirkte er anfangs linkisch, die "Titanic" verspottete ihn als "Birne" - und die Familie litt unter der Häme mit: "Wenn er Birne war, dann konnte sie ja nicht die Rose von Jericho sein", sagt Gertrud Höhler. Es traf Hannelore Kohl tief, als bieder oder als "Dummchen aus der Pfalz" bezeichnet zu werden.
Dennoch versuchte sie, allen Erwartungen perfekt zu entsprechen. Hannelore Kohl konnte charmant sein, Menschen aufschließen. Und sie beherrschte als gelernte Dolmetscherin, anders als ihr Mann, mehrere Sprachen. "Staatsbesuche hat sie genossen, da hatte sie Sternstunden", sagt Jürgen Leinemann, damals "Spiegel"-Korrespondent in Bonn. Bei internationalen Treffen und Besuchen von Staatsgästen habe sie geradezu brilliert, so Heribert Schwan. "Sie diskutierte ohne Dolmetscher mit den Großen der Welt auf Englisch oder Französisch, sie trat live im französischen Fernsehen auf, während ihr Mann so ein bisschen stumm daneben stand und auch manchmal eifersüchtig reagierte."
Natürlich kannte Hannelore Kohl die Gerüchte um die "Wohngemeinschaft" ihres Mannes in Bonn mit seiner Büroleiterin Juliane Weber, Cheffahrer Ecki Seeber, später auch mit dem persönlichen Sprecher Eduard Ackermann. In Bonn machte die Runde, dass Hanns Martin Schleyer, ein enger Freund der Kohls, dem Kanzler gesagt habe: "Helmut, du musst dieses Zigeunerlager auflösen, mitsamt der Marketenderin." Das sah Hannelore Kohl, laut Schwan, etwas anders. Mit Juliane Weber verband sie eine Freundschaft. Eifersüchtig war sie trotzdem, sagt Schwan.
Sie hatte keinen Einfluss darauf, dass solche Kolportagen ihre wahre Leistung verdeckten. Als Gründerin des Kuratoriums ZNS (1983) und der "Hannelore-Kohl-Stiftung für Verletzte mit Schäden des Zentralnervensystems" 1993 sammelte sie Millionen Mark an Spenden, die in professionelle Diagnose- und Therapieprojekte und in den Aufbau von Kliniken gesteckt wurden. Wer sie als Moderatorin von Bällen und Benefizveranstaltungen für die ZNS erlebte - witzig, locker, professionell -, sah sie mit anderen Augen.
Im Winterwahlkampf 1986/87 lernte ich Hannelore Kohl kennen. Ich war mir im Klaren darüber, dass ich das Interview mit ihr auch deshalb gewonnen hatte, weil Kohls Berater fanden, er müsse im Norden mehr für sich werben. Da kam eine Homestory über seine Frau wohl gerade recht. Home hieß: Der Kanzlerbungalow in Bonn, in Oggersheim gab sie keine Interviews. Ich wollte herausfinden, warum es von ihr nur diese Lächelfotos gab. Ob die Frau des Kanzlers der Öffentlichkeit nur diese Maske zeigen wollte.
Hannelore Kohl, damals 53, saß kerzengerade auf der champagnerfarbenen Couchgarnitur im Empfangssalon des Bungalows und gab zunächst erwartbare Antworten. Dass es in ihrer 26-jährigen Ehe immer zuerst um ihren Mann und dessen Laufbahn gegangen sei - für sie offenbar kein Problem: "Für mich steht das Wir im Vordergrund und nicht das Ich." Ihre täglichen Termin- und Repräsentationspflichten - angeblich keine Belastung: "Man bleibt dabei beweglich!" Das Wort Stress benutzte sie nicht, dafür aber häufig "pausenlos". Doch nur ihre Augen lächelten.
Das änderte sich erst, als wir auf ihre Arbeit für die ZNS zu sprechen kamen. Da wurde ihre Stimme lebhafter, sie strahlte. Dann deutete sie auf meinen dicken Bauch, ich war im siebten Monat schwanger: "Wenn Sie heute noch zurück nach Hamburg fahren, müssen Sie doch etwas essen", sagte sie, orderte in der Küche eine große Schnittchenplatte, servierte mir persönlich frischen Tee. Warum eine Politiker-Ehe, zumal bei der CDU, immer heil und harmonisch aussehen müsse, selbst wenn der Haussegen schief hängt, fragte ich. "Ach, wissen Sie ... Ich muss wieder an früher anknüpfen ... Ich hatte in meinem Leben wirklich böse, schlimme Zeiten. Und wenn ich damals daran nicht zerbrochen bin, dann brauche ich mich über manche Auseinandersetzungen, auch über Kritik von außen, nicht mehr so aufzuregen. Ich kann nicht abhauen, zu Muttern gehen", sagte sie. Es gebe auch keinen Grund dafür, fügte sie schnell hinzu. "Meine Ehe, das ist doch meine Heimat."
Das war eine sehr ehrliche Antwort. Inzwischen war sie entspannt, rauchte eine Mentholzigarette. Auch so eine Angewohnheit, die sie sich in der Öffentlichkeit verkniff. Zum Abschied riet sie mir, Stützstrümpfe zu tragen. "Das habe ich auch gemacht. Dann bekommen Sie keine Besenreißer an den Waden."
Ich hatte eine Frau mit vielen Gesichtern erlebt. Eine vorsichtige, die immer die richtige Antwort geben wollte. Eine gewandte, die auch schallend lachen und den Politikbetrieb karikieren konnte. Die aufrichtig, fürsorglich und freundlich war. Diese Mischung aus Bodenständigkeit und Empfindlichkeit war charakteristisch für sie. Die "andere" Hannelore Kohl konnte Leitungen erden und hatte für das Haus in Oggersheim einen Schaltplan für drei Stromkreise angefertigt, damit Fernsehteams ihre Scheinwerfer anschalten konnten, ohne dass die Sicherungen rausflogen. Sie liebte das Sportschießen mit einer Walther PPK Cal. 7,65, "weil es etwas mit Konzentrationsfähigkeit und mit Präzision zu tun hat", hatte sie im Interview gesagt. Sie liebte schnelles Fahren in Cabrios. Diese Hannelore Kohl war lebenslustig. Sie hätte auch selbstständige Unternehmerin sein können oder Freiberuflerin, eine erfolgreiche Fundraiserin war sie ja schon.
Zehn Jahre später war sie so geschwächt, dass sie ihre Hochsicherheitsbude fast nicht mehr verließ, und wenn, dann nur nachts oder hochgeschlossen, mit einer Perücke, Sonnenbrille und fingerdicker Schminke. Ob es sich wirklich um eine unheilbare Lichtallergie handelte, die 1993 von einem Penicillinschock ausgelöst worden sein sollte, darüber gibt es unter Medizinern verschiedene Meinungen. Tageslicht, später auch Kunstlicht, und Hitze bereiteten ihr unerträgliche Schmerzen. Sie nahm ständig Medikamente.
In einem Alter, in dem andere Familienmütter anfangen zu malen, zu golfen oder zu reisen, saß Hannelore Kohl allein in ihrem abgedunkelten, stillen Bungalow, in dem die Klimaanlage auf kühle 17 Grad gestellt war.
Mehrere Medikamente hatte sie am Abend des 4. Juli 2001 zu einem tödlichen Cocktail zusammengerührt. 20 Abschiedsbriefe - an ihren Mann, ihre Söhne, das Haushälterpaar, ihre Freundinnen - lagen akribisch sortiert auf dem Nachttisch. Sie hatte versucht, wieder alles richtig zu machen. Aber "alles wird gut", das glaubte sie nicht mehr.
Heribert Schwan: "Die Frau an seiner Seite: Leben und Leiden der Hannelore Kohl", Heyne, 19,99 Euro
Walter Kohl: "Leben oder gelebt werden: Schritte auf dem Weg zu Versöhnung", Integral, 18,99 Euro
Peter Kohl/Dona Kujacinski: "Hannelore Kohl", Droemer-Knaur, nur noch über Antiquariate erhältlich