Walter Kohl hat ein Buch über das Leben im Schatten seines Vaters geschrieben. Der CDU-Politiker wird als kalter Machtmensch gezeichnet.
Das Telegramm enthält vier Sätze. "Heidelberg, 8. Mai 2008. Wir haben geheiratet. Wir sind sehr glücklich. Maike Kohl-Richter und Helmut Kohl." Ende. So teilte Helmut Kohl seinem Sohn Walter seine Vermählung mit. Keine Einladung zur Hochzeit, kein Gespräch, kein Anruf, ein Telegramm. So kommuniziert der "Kanzler der Einheit". Der Sohn stellte seinen Vater später zur Rede: "Willst du die Trennung?" Helmut Kohl antwortete knapp: "Ja." Walter Kohl war aus dem "System Kohl" ausgeschlossen: "Ich durfte kein Kohlianer mehr sein", schreibt Walter Kohl.
"Leben oder gelebt werden" heißt das Buch, das Walter Kohl über sein Leben im Schatten seines Vaters geschrieben hat. Es ist eine schonungslose Abrechnung mit dem "Kanzler der Einheit". Walter Kohl, 47, beschreibt seinen Vater als kaltherzigen Machtmenschen, der sich um seine Familie kaum kümmerte. Das Buch enthält berührende Passagen über das Leben hinter kugelsicheren Fenstern und über die Schikanen im Alltag. Das Buch ist kein Racheakt, betont der Autor. Jahrzehntelang hat er über seine Leiden geschwiegen. Jetzt arbeitet er sie öffentlich auf. Walter Kohl wird 1963 geboren, da wird sein Vater Fraktionschef der CDU im rheinland-pfälzischen Landtag. Walters wichtigste Bezugspersonen sind seine Mutter Hannelore und sein Bruder Peter. "Einen Gast gab es jedoch in unserem Hause. Ich meine meinen Vater", schreibt Walter Kohl. Nur selten ist der aufstrebende Politiker zu Hause, und wenn er da ist, verschwindet er in sein Arbeitszimmer. Für seine Kinder hat er keine Zeit. Der Vater des Nachbarsjungen ist auch kaum da, weil er Kraftfahrer ist. Doch der Mann kann seinem Sohn seinen Laster mit der lauten Hupe vorführen. Walter hingegen versteht nicht, was sein Papa macht.
1969 wird Walter eingeschult, in eine ganz normale Grundschule, die Eltern wollen das so aus Image-Gründen, wie der Sohn vermutet. Kurz vorher war sein Vater Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz geworden. Helmut Kohl hat keine Zeit, seinen Sohn am ersten Schultag zu begleiten. Schon in der ersten Pause wird Walter von Schülern gehänselt. Er ist damals sechs Jahre alt. Aber er versteht: Walter Kohl, den gibt es hier jetzt gar nicht. Sondern nur den "Sohn vom Kohl". Als Walter sich seinem Vater gegenüber öffnet, kommt ein typischer Helmut-Kohl-Satz: "Du musst stehen!"
Walter und Peter Kohl ziehen sich zurück. Ihr Spielplatz und Versteck ist ein verwildertes Grundstück neben dem kohlschen Haus in Oggersheim. Eines Tages rücken Arbeiter an und roden das Grundstück. Von nun an steht dort ein weißer Wohnwagen mit großer Antenne. Tag und Nacht steigen fremde Männer ein und aus, überwachen das Grundstück. Helmut Kohl zieht für einige Monate aus dem Haus aus, um durch den Bautrubel nicht bei der Arbeit gestört zu werden. Hannelore Kohl nimmt es hin. Weil sie aus einer Generation stammt, die von ihr Disziplin und Opferbereitschaft verlangte. Die nächste Generation der Politiker-Gattinnen ist da weniger defensiv. Die Ehen von Vollblut-Politikern wie Gerhard Schröder, Joschka Fischer oder Christian Wulff, die ihr Familienleben ähnlich vernachlässigten wie Kohl das seine, gehen entsprechend in die Brüche.
Wenn Walter Kohl zur Schule geht, folgen ihm bis zu drei Polizisten. In der Schule warten schon die Mitschüler mit ihren Hänseleien. Als Walter 13 Jahre alt ist, tritt sein Vater erstmals als Kanzlerkandidat der Union an. Oberstufenschüler passen den Kandidaten-Sohn auf der Schultoilette ab. "Mein Vater sagt, dass dein Alter eine ganz miese Sau ist. Voll das Arschloch", sagt einer. Dann verprügeln sie den Kandidaten-Sohn, zu viert. Er wird bewusstlos, als er die Augen wieder öffnet, liegt er mit dem Kopf im Urinal. "Vor der Gewalt der Terroristen war ich beschützt, der Gewalt meiner Mitschüler aber schutzlos ausgeliefert", schreibt Walter Kohl.
Hannelore Kohl ist überfordert mit der Situation. Und Helmut Kohl, der seine Familie durch seine Ämter in die Liga der Topgefährdeten befördert hat, steht für vertrauliche Gespräche mit seinen Kindern nicht zur Verfügung. Er überlässt die Erziehung seiner Frau. Er fragt lediglich die schulischen Leistungen ab und erteilt bei schlechtem Betragen eine "Versohlung".
Wenn Walter und Peter spielen, sind sie häufig allein. Manchmal ist nur ein Polizeibeamter ihr Spielkamerad. "Unser eigener Vater spielte so gut wie nie mit uns, außer wenn es von Pressefotografen für eine Homestory gewünscht wurde." Walter würde gerne mit seinem Vater zelten gehen, wie die anderen. Doch das bleibt ein Traum.
Als die RAF nach dem Tod von Holger Meins Mitte der 70er-Jahre Anschläge verübt, werden auch die Kohls stärker bewacht. Im Sommer 1976 klären drei Kriminalbeamte Walter über die Gefährdungslage auf. Die Beamten sagen, dass sich der Staat nicht erpressen lassen, nicht jede finanzielle Forderung erfüllen kann. Höchstbetrag: fünf Millionen Mark. "Ein Preisschild auf mein Leben", das erkennt Walter Kohl schon mit 13 Jahren. Politiker-Kinder müssen früh erwachsen werden.
Walter Kohl entwickelt eine Abneigung gegen den politischen Betrieb. Er will zur Bundeswehr. Am Freitag, den 1. Oktober 1982 wird sein Vater Bundeskanzler, am Montag danach rückt Walter Kohl als Rekrut in ein Jägerbataillon der Bundeswehr ein. Auch bei der Bundeswehr wird er wegen seines Vaters schikaniert. "Kohl, du bist doch Patriot, nicht wahr? Also los, mach mal eine Ehrenrunde auf der Hindernisbahn für den Bundeskanzler." Mit Sturmgepäck, Maschinengewehr und Munitionsgurten läuft er los, seine Kameraden schauen zu. Er muss noch eine Runde laufen, "fürs Vaterland". Kohl bricht zusammen. Doch er will sich keine Blöße geben und negative Schlagzeilen vermeiden, deshalb beißt er sich durch. Nach der Bundeswehr studiert er in Amerika und kehrt zurück, als sein Vater an der Wiedervereinigung arbeitet. Zu dieser Zeit fühlt er sich seinem Vater am nächsten, er darf ihn auf vielen Reisen in die DDR begleiten, steht bei der Öffnung des Brandenburger Tors hinter ihm. Helmut Kohl fragt seinen Sohn sogar nach seiner Einschätzung. Als der Kanzler 60 wird, hält Walter Kohl im Namen der Familie die Festrede.
Walter Kohl startet in Amerika in den Beruf. Er arbeitet als Analyst für die US-Bank Morgan Stanley in New York, sein Vater interessiert sich nicht dafür. Nach der Wiedervereinigung wird Helmut Kohl auch in den USA bekannt. Vielen Kollegen fällt erst jetzt auf, wer Walter Kohl ist. Plötzlich verweigern ihm Kollegen den Handschlag, weil ihre Familien Opfer des Holocaust wurden. Von anonymer Hand werden ihm Karikaturen seines Vaters auf den Schreibtisch gelegt - Helmut Kohl mit Hitlerbärtchen. 1994 kehrt Walter Kohl zurück, lernt seine erste Frau kennen. Das Paar bekommt einen Sohn und lebt in Köln. Den Vater, der nur 30 Kilometer entfernt im Bonner Kanzlerbungalow wohnt, sieht er nur selten.
Den Schatten seines Vaters wird er nicht los. Erst recht nicht, als die Spendenaffäre aufgedeckt wird und sein Vater von allen seinen Ämtern zurücktreten muss. Walter Kohl will zu dieser Zeit den Job wechseln. "Herr Kohl, Sie haben eine gute Ausbildung, Sie sind qualifiziert, normalerweise kein Problem. Aber ich belaste doch meine Reputation nicht, indem ich mit Ihnen in Verbindung gebracht werde." Diese Absage bekommt er mehrmals. Sein Vater zieht sich in sich zurück, für ihn ist alles ein Angriff auf sein Lebenswerk.
Am 5. Juli 2001 ruft ihn Juliane Weber, die Büroleiterin seines Vaters, an: "Walter, deine Mutter ist tot." Hannelore Kohl hatte sich nach der Diagnose der Lichtallergie 1993 immer mehr zurückgezogen. Aus Medikamenten hatte sie sich einen tödlichen Trank gemixt. Die Mutter liegt in ihrem Bett, schreibt Kohl, ihr Gesichtsausdruck ist friedlich. Auf dem Nachttisch liegt ein Abschiedsbrief an Walter. Hannelore bittet um Verständnis für ihre Entscheidung. Sie wünscht sich, dass sich der Vater und die beiden Söhne immer gut verstehen werden. Und dass sich Walter um seinen Vater kümmert. Schließlich hatte sie sich immer um den Haushalt und die Finanzen gekümmert.
Walter Kohl beschreibt seine Mutter als Dienerin seines Vaters. "Sie unterwarf sich vollständig seinen Zielen und diente seinem Aufstieg ihr Leben lang." Die Spendenaffäre habe sie tief getroffen. "Es war für sie, einen schon schwer kranken Menschen, einfach zu viel. Vielleicht kam schon hinzu, dass sie auch immer weniger an einen gemeinsamen Lebensabend mit ihrem Mann glaubte." Und: "Sie wurde gelebt, sie hat nur selten sich selbst gelebt."
Walter Kohl ernennt sich selbst zum Assistenten seines Vaters. Er reibt sich auf, damit Helmut Kohl seinen Alltag meistert. Doch der dankt es ihm nicht. "Nach einer Weile begann er mich so zu behandeln, wie er als Kanzler seine Mitarbeiter behandelt hatte." Irgendwann erteilt er seinem Sohn Weisungen nur noch über sein Büro.
Walter Kohl stürzt in eine tiefe Sinnkrise. Er wird depressiv, verliert über Monate den Geschmackssinn, seine Ehe scheitert. Er plant den Selbstmord, ein Tod im Wasser, weit vor der Küste im Roten Meer. Doch Walter Kohl entscheidet sich gegen den Freitod. Weil er einen Sohn hat. Und weil er sich jetzt vom Vater lösen will. Er kündigt den Assistenten-Job für seinen Vater.
Was für ein Mensch ist Helmut Kohl? Es gebe keinen Unterschied zwischen dem Politiker und dem Privatmenschen, schreibt sein Sohn. "Seine wahre Familie heißt CDU, nicht Kohl." Loyalität bedeutet alles für Helmut Kohl, deshalb ist sich Walter Kohl sicher, dass sein Vater "auch das Geheimnis der anonymen Spender mit ins Grab nehmen" werde. Niemals hätte sein Vater einen Diensttermin für eine familiäre Verpflichtung fallen gelassen.
"Mein Vater hielt mir oft vor, ich verstünde nicht, welche Vorteile ich aufgrund meiner Herkunft hätte. Ich aber wollte gar keine Vorteile - ich wollte einfach nur so sein dürfen wie andere Gleichaltrige." Jahrelang wartet Walter Kohl auf ein klärendes Gespräch. "Heute weiß ich, dass wir dieses Gespräch nie führen werden." Vater und Sohn entfremden sich nach dem Tod der Mutter immer mehr. Walter Kohl lernt eine neue Frau kennen, die Koreanerin Kyung-Sook. Helmut Kohl hat jetzt Maike Richter an seiner Seite. Walter Kohl spekuliert in seinem Buch, dass sein Vater schon zu Lebzeiten von Hannelore Kohl eine Beziehung zu ihr gehabt haben soll. "Sie gab mir ganz unverblümt zu verstehen, dass sie meinen Vater am liebsten für sich ganz allein haben wollte", schreibt Walter Kohl. Zur Hochzeit werden die Söhne nicht eingeladen. Irgendwann danach kommt es zum Bruch. "Willst du die Trennung?" - "Ja."
Walter Kohl arbeitet als Selbstständiger in der Autoindustrie. Zu seinem Bruder Peter, der mit der türkischen Unternehmerstochter Elif Sözen verheiratet ist und in London als Banker arbeitet, hat er ein gutes Verhältnis. Er habe seinen Vater so akzeptiert, wie er ist. "Meine Bürde ist meine Herkunft, ist mein Name. Viel zu lange habe ich versucht, mein Leben in Richtung meines inneren Ideals hinzubiegen, mich in etwas hineinzuträumen, was doch nicht in meiner Macht stand, was nie realistisch war." Er sei zwar, schreibt er, der "Sohn vom Kohl". Aber er gestalte jetzt sein Leben selbst. Als Walter Kohl.