Der Stummfilm “The Artist“ hat bei der 64. Oscar-Verleihung in Los Angeles abgeräumt. Zu Recht, sagt Abendblatt-Redakteurin Karolin Jacquemain.
Hamburg. Wenn man so will, dann war diese Oscar-Nacht eine einzige Ode an die Vergangenheit. An eine Zeit, in der die Uhren weniger rasant tickten, Filme eine längere Halbwertszeit besaßen, kurz: in der das Leben insgesamt tröstlicher, verlässlicher erschien. Die frohe Botschaft des Abends war folglich, dass es lebhaft zuging im Hollywood & Highland Center, das vor der Konzernpleite einmal Kodak Theatre hieß. Jean Dujardin steppte, Meryl Streep orderte Whiskey hinter der Bühne, Gwyneth Paltrow zog alle Blicke auf sich im schneeweißen Tom-Ford-Kleid, und Veteran Billy Crystal enttäuschte das Saalpublikum auch bei seiner nunmehr neunten Moderation nicht.
Es war der Sieg des Schwärmerischen über das Dramatische, der diese 64. Oscar-Verleihung charakterisierte. Der Oscar für den besten Film ging wie zu erwarten an den Favoriten „The Artist“, die französische Stummfilm-Hommage in Schwarz-Weiß – der mit insgesamt fünf Auszeichnungen große Sieger des Abends. Mithalten konnte einzig Martin Scorseses 3-D-Märchen „Hugo Cabret“, das mit digitalen Mitteln die analoge Welt beschwört und ebenfalls fünfmal ausgezeichnet wurde. Damit entschieden sich die Mitglieder der Academy für zwei Werke reiner Bildmagie. Und gegen Alexander Paynes sehr heutiges Familiendrama „The Descendants“, dem zum Verhängnis wurde, dass alle Zeichen auf Nostalgie standen.
Ganz schön schrill: Das waren die "Oscar"-Kleider der Stars
Nicht zuletzt demonstrierte diese weltweit wichtigste Filmpreisverleihung den Siegeszug der Franzosen in Hollywood. Da wären „The Artist“ (noch nie zuvor hat ein französischer Film bei den Oscars als bester Film gesiegt) und „Hugo Cabret“ um den Kinopionier Georges Méliès, der bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs 500 Filme drehte. Weiter der Oscar für Jean Dujardin als bester Hauptdarsteller, der sich mit einem „Formidable!“ von der Bühne verabschiedete, sowie der Drehbuchpreis für Woody Allens leichtfüßigen Publikumsliebling „Midnight in Paris“, der ebendort seine Traumhandlung entspinnt. Paris erobert Hollywood also. Hollywood wiederum besinnt sich auf seine guten alten Zeiten – und zeichnet den ersten Stummfilm seit 1928 aus.