Nach gut zwei Wochen auf Tournee und vier verschiedenen Städten ist die Halbzeit für das Hamburg Ballett genommen. Da heißt es innehalten. Und so reflektieren die beiden Ersten Solisten Silvia Azzoni und Carsten Jung heute das Leben in Japan und die Besonderheiten der Japaner.

Nach gut zwei Wochen auf Tournee und vier verschiedenen Städten ist die Halbzeit für das Hamburg Ballett genommen. Da heißt es innehalten. Und so reflektieren die beiden Ersten Solisten Silvia Azzoni und Carsten Jung heute das Leben in Japan und die Besonderheiten der Japaner.

Silvia Azzoni:

Ich bin immer wieder beeindruckt von dem Grad der Anteilnahme und Begeisterung des Publikums hier in Japan. Ich denke, es ist für die Japaner sehr wichtig, im Ballett eine Möglichkeit zu haben, Zugang zu ihren eigenen Gefühlen zu finden. Emotionen in der Öffentlichkeit zu zeigen, ist hier tabu. Es gibt einen Schutzschild aus Höflichkeit und Freundlichkeit, aber wie es dahinter aussieht, weiß man nicht.

Im Ballett können die Zuschauer ausbrechen aus solchen gesellschaftlichen Reglements, ihren Emotionen freien Lauf lassen. Und das ist unglaublich wichtig, sonst verkümmert die Seele. Ich glaube, dass wir auch deshalb hier so viele treue Fans haben.

Während der Ballettschule war ich ganz gut mit einem Japaner befreundet. Er wollte individuell sein, nicht einer von vielen in einer Masse der Gemeinschaft und galt deshalb immer als Rebell. Schon als Jugendlicher ist er aus Japan weggegangen und nie zurückgekehrt heute lebt er in Schweden. Er hat mir eine kleine Anekdote erzählt, die wohl typisch ist für die japanische Art zu denken: In der Schule lernen die Kinder, dass es unmöglich ist, "nein" zu sagen. Egal was passiert und egal, ob sie etwas nicht wollen oder nicht wissen, sie dürfen nicht "nein" sagen.

Wenn also jemand nach dem Weg zum Bahnhof gefragt wird und ihn nicht kennt, gibt er lieber eine falsche Auskunft, als zu sagen, dass er nicht Bescheid weiß. Höflichkeit und Bescheidenheit gehen hier über alles. Das ist eine ganz andere Art zu leben, als wir das in Europa gewöhnt sind.

Carsten Jung:

Neulich habe ich eine hübsche Sache erlebt: Ich war wieder einmal auf der Suche nach einem Internet-Cafe, um mit meiner Familie in Hamburg zu skypen. Ich habe im Hotel gefragt, aber da wusste keiner Bescheid. Und so habe ich mich selbst auf die Suche gemacht, die allerdings von wenig Erfolg gekrönt war. Bis ich zwei Japanerinnen fragte, ob sie wüssten, wo ich ins Internet komme.

Zwar konnten sie mir den Weg nicht erklären, aber sie haben mich kurzweg selbst zum nächsten Internet-Cafe begleitet, damit ich mich nicht verlaufe. Sowas ist schon wahnsinnig nett. Es zeigt, wie zugewandt und hilfsbereit die Japaner sind, eine Eigenart, die mir immer mehr auffällt.

Wahnsinnig finde ich die Mode der jungen Japaner: So viele verrückte Klamotten auf einem Haufen habe ich selten gesehen. Und nicht nur in Tokyo ziehen sich die Jugendlichen so an, auch in den anderen Orten, in denen wir waren, gab es ganz tolle Kombinationen. Ich glaube, für die jungen Japaner ist das eine Möglichkeit, ihre Individualität auszuleben.

Die Mode ist auch eine Form des Ausbruchs: Die einen werden zu Manga-Figuren, die anderen zu Künstlertypen, die Dritten finden ganz eigene Kreationen, die man gar nicht beschreiben kann. Vielleicht ist das ein Zeichen dafür, dass sich das Land verändert, dass heute mehr Individualität möglich ist und Mode nur der erste Bereich, in dem die Tabus gelockert sind.

Ich finde, dass sich das Land sehr verändert hat, seit meiner ersten Tournee 1994. Es ist offener geworden für äußere Einflüsse, aber auch für neue Strömungen innerhalb Japans. Aber nicht nur Japan hat sich verändert, die ganze Welt ist heute eine andere.

John Neumeier hat das bei einer Rede anlässlich eines Empfangs für das Hamburg Ballett vor zwei Tagen sehr gut ausgedrückt: Er hat erzählt, wie er 1986 das erste Mal in Japan war und dort bei einem Empfang vor zwei Flaggen stand, der japanischen und der deutschen. Er konnte es nicht fassen die Flaggen der beiden Länder, die in seiner Jugend die schlimmsten Feinde seiner Heimat USA waren. Und nun stand er als Repräsentant Deutschlands in Japan auf der Bühne. In Frieden, ohne schlechte Gefühle, ohne Angst. Es sind solche Dinge, die die eigene Sicht auf die Welt verändern, im Großen wie im Kleinen.