Rache ist süß, sagt ein Sprichwort, aber auch legitim? Über ein archaisches Gefühl in zivilisierten Zeiten nach der Tötung bin Ladens.
Hamburg. Es sind Bilder, die wir so noch nicht gesehen haben: In Amerika jubeln Menschen auf Straßen und Plätzen über den Tod eines Menschen. Die Tötung des lange gesuchten Top-Terroristen Osama Bin Laden löst in den USA Emotionen aus und bewegt die Menschen in einer Weise, wie es für den westlichen Kulturkreis in unserer Zeit eigentlich untypisch ist. Es scheint merkwürdig, doch die Bilder aus New York erinnern ausgerechnet an Szenen aus der arabischen Welt, etwa nach den Anschlägen des 11. September 2001.
Natürlich lassen sich diese Vorgänge nicht gleichsetzen, aber es gibt hier wie da ein archaisches Element, das sich nicht auf den Nenner des modernen und zivilisierten Rechtsempfindens bringen lässt. Die große Emotion gründet sich nicht auf ein abgewogenes Rechtsurteil, sondern auf eine kulturgeschichtlich verankerte und offenbar jederzeit reaktivierbare Erfahrung: das beglückende Gefühl vollzogener Rache.
Die offensichtliche Genugtuung, die der Tod jenes Menschen auslöst, der für die Terroranschläge vom 11. September 2001 verantwortlich war, wird immer wieder mit der vollzogenen Rache für die von ihm begangenen Taten begründet. Rache ist süß, heißt ein Sprichwort, aber ist sie auch legitim? In archaischen Gesellschaften war sie es. Durch Rache wurde Unrecht überwunden und der Rechtsfriede wiederhergestellt - allerdings nur im besten Fall. Denn war die Rache unverhältnismäßig, zog Unrecht neues Unrecht nach sich.
Im Drama von Euripides etwa rächt sich Medea an ihrem untreuen Ehemann, indem sie dessen neue Braut mit einem vergifteten Hochzeitsgeschenk tötet - wobei dann ebenfalls der Vater der Braut stirbt. Auch im Alten Testament gibt es die Eskalation der Rache. Im vierten Kapitel der Genesis ist von Lamech die Rede, dem Ururenkel des Brudermörders Kain. Da heißt es: "Kain soll siebenmal gerächt werden, aber Lamech siebenundsiebzigmal."
Um solchen Rache-Exzessen entgegenzuwirken, entwickelte sich in vielen Gesellschaften ein Rechtsprinzip, das den Gedanken der Verhältnismäßigkeit in den Vordergrund rückt: Die Rache eines Einzelnen oder einer Sippe wird zwar anerkannt, sie unterliegt aber bestimmten Normen, die der Rächende einhalten muss, wenn er nicht außerhalb der Gesellschaft stehen will. Im 2. Buch Mose gibt es einen ganzen Katalog von Paragrafen, in denen Delikt und angemessene Sühne beschrieben sind. Da heißt es: "Entsteht ein dauernder Schaden, so sollst du geben Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brandmal um Brandmal, Beule um Beule, Wunde um Wunde."
Diese Verhältnismäßigkeit ist ein bedeutender ethischer Fortschritt, der aus der blinden eine berechenbare Rache macht. Doch schließlich wird in der Bibel die Rache sogar grundsätzlich verboten. Im 3. Buch Mose heißt es: "Du sollte dich nicht rächen noch Zorn bewahren gegen die Kinder deines Volks. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." Die Rache ist nicht mehr Sache der Menschen, sondern ihres Gottes. "Die Rache ist mein", heißt der Anspruch, den der Gott Israels erhebt (und reichlich Gebrauch davon macht).
Im Neuen Testament wird die Rache sogar noch viel radikaler abgelehnt. Im 18. Kapitel des Matthäus-Evangeliums ist ein Gespräch beschrieben, in dem Jesus im klaren Bezug auf Kain und Lamech Petrus erklärt, er müsse statt Rache seinem Nächsten verzeihen. Diesem Vorbild sind die Christen und ihre Kirchen in ihrer mehr als 2000-jährigen Geschichte sehr häufig nicht gerecht geworden. Aber das Verbot der Rache und die Aufforderung, nicht nur den Nächsten, sondern auch den Feind zu lieben, gehört dennoch zu den zentralen Inhalten des Christentums.
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In den USA spielen christliche Kirchen, Freikirchen und Sekten eine ungleich größere Rolle als im säkularisierten Europa. Vor allem fundamentalistische Strömungen haben großen Einfluss auf Gesellschaft und Politik. Amerikanische Fundamentalisten vertreten eine rigide Sexualmoral und lehnen die Evolutionstheorie ab, haben aber keine Probleme mit der Todesstrafe und privatem Waffenbesitz. Viele Menschen, die seit dem 18. Jahrhundert als Einwanderer in die USA kamen, waren Glaubensflüchtlinge. Die Neue Welt, in der sie ihren Glauben ungehindert leben konnten, sahen sie als "Gottes eigenes Land". Christentum und Patriotismus sind für viele Amerikaner bis heute eng miteinander verbunden.
Und dieses patriotische Christentum, das noch stark vom archaischen Bewusstsein der Siedlergenerationen geprägt ist, nimmt die Schöpfungsgeschichte der Bibel zwar wörtlich, misst den neutestamentlichen Aussagen zu Vergebung und Feindesliebe aber weit weniger Wert bei. Genugtuung über die vollzogene Rache an Osama Bin Laden - für viele amerikanische Christen ist das derzeit so selbstverständlich wie das Amen in ihren Kirchen.