Kein anderer Führer besitzt genug Charisma für Bin Ladins Nachfolge, aber al-Qaida, das tödliche Netzwerk des Terrors, bleibt gefährlich.
Hamburg. "Mein Tod spielt keine Rolle. Die Erweckung hat begonnen", hat Usama Bin Ladin einmal gesagt. Das war im Jahre 2001, in dem die Zwillingstürme des World Trade Centers in Feuer und Asche zusammensanken, die Seele Amerikas zerriss und die aufwendigste Menschenjagd der Geschichte begann. Ein Jahrzehnt später ist der gesuchte Terrorfürst tot, hat sich ein geradezu biblisch anmutender Racheschwur der USA erfüllt. Doch al-Qaida, seine monströse Schöpfung, lebt.
Mit seinem asketischen Fanatismus wurde der Saudi Usama Bin Ladin, genannt "Abu Abdullah", zum lebenden Symbol seines weltumspannenden Terrornetzwerks. Al-Qaida, auf Deutsch "die Basis", wurde in der Folge tatsächlich zum ideologischen Fundament eines Krieges gegen die USA und alle Werte, die sie verkörpern.
Die Muslime in aller Welt, die nach Bin Ladins Ansicht in einer Art Duldungsstarre ihre von unislamischen Einflüssen verderbten Regime ertrugen, sollten zum Dschihad aufgestachelt, terroristisch erweckt werden. Teilweise ging diese Saat auch auf.
Bin Ladins Tod kommt nun allerdings an eine historische Wegscheide für die arabisch-islamische Welt. Mehr noch als der Westen ist al-Qaida vom "arabischen Frühling", der Tyrannendämmerung in mehreren Staaten, eiskalt überrascht worden. Mit dschihadistischen Ideologien hatten diese Revolutionen nicht das Geringste zu tun, sondern im Gegenteil mit dem Wunsch nach Freiheit. Die vom Westen mit viel Wohlwollen und tatkräftiger Hilfe begleiteten Revolten in der arabischen Welt sind fast komplett von der dschihadistischen Ideologie abgekoppelt. Al-Qaida ist derzeit gesellschaftlich marginalisiert, aber wittert dennoch ihre Chance. Falls nämlich die Freiheits- und Wohlstandshoffnungen an alten oder neuen Machteliten zerschellen sollten - was gerade in Ägypten nicht auszuschließen ist -, dann werden sich die Militanten als Retter anbieten.
Usama Bin Ladins Tod ist aber zunächst ein verheerender psychologischer Schlag für al-Qaida. Mit dem täuschend sanftmütigen Drahtzieher ist das gemeinsame Symbol für das weltweit verstreute Terrornetz ausgelöscht.
Al-Qaida ist eine geradezu virtuelle Organisation ohne greifbare Führungsstruktur. Es darf zwar vermutet werden, dass Usama Bin Ladin viele der großen Anschläge etwa auf Bali, in London oder Madrid abgesegnet hat oder zumindest vorher Kenntnis davon hatte. Doch anders als noch im Afghanistan-Krieg bis 1989 war er später nie mehr operativer Führer von Terrorattacken vor Ort.
Usama bin Ladin tot – hohe Sicherheitsstufe in Hamburg
Usama bin Ladins Leiche wurde sofort im Meer bestattet
Usama bin Ladin starb durch einen Kopfschuss
Die Verbindung von Hamburg und al-Qaida
Der Terror-Anschlag vom 11. September und seine Folgen
Bin Ladin wurde vielmehr zum Spiritus Rector; zur geistigen Leitfigur dieser Terrorideologie. Die einzelnen Gruppen vor Ort agierten weitgehend autonom, übernahmen nur die grobe "Geschäftsidee" - wie Franchise-Filialen. Mittlerweile kristallisierte sich eine regionale Aufteilung heraus. So gibt es den - inzwischen allerdings stark geschwächten - Ableger al-Qaida im Irak, der sich durch die völlig entmenschte Strategie der Geiselenthauptungen und wahlloser Bombenanschläge im Volk isolierte, ferner al-Qaida des islamischen Maghreb mit Schwerpunkt in Algerien, al-Qaida in seinen nordwestpakistanischen Rückzugsgebieten sowie al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel mit Sitz im Jemen.
Die Gründung des jemenitischen Zweiges erst im Jahre 2009 erfolgte ursprünglich als Notmaßnahme infolge des steigenden Fahndungsdrucks in Saudi-Arabien. Zwar stammte Bin Ladin wie auch die meisten der Attentäter des 11. September aus Saudi-Arabien, doch ist das dortige Königsregime mit seiner engen Bindung an den Westen der erbitterte Todfeind al-Qaidas - und drängte das Terrornetzwerk aus dem Ölstaat heraus. Zudem kam Bin Ladens Familie ursprünglich aus dem Jemen und hat dort viele Sympathisanten. Das in weiten Teilen von Separatisten und al-Qaida beherrschte bitterarme Land gilt als "gescheiterter Staat" ohne Zentralgewalt und bietet militanten Islamisten daher einen idealen Nährboden.
Die US-Regierung betrachtet al-Qaida im Jemen in jüngsten Risikoanalysen als größte terroristische Bedrohung für die USA. Von hier aus dürften künftige Anschläge gesteuert werden.
Der Tod Bin Ladins reißt bei al-Qaida keine Lücke bezüglich des operativen Führens; doch als Symbol- und Identifikationsfigur des Terrornetzwerks wird der Saudi auf absehbare Zeit nicht ersetzt werden können. Es gibt zwar eine Reihe von markanten Figuren, von denen allerdings niemand die Statur besitzt, um unverzüglich an Osama Bin Ladens Stelle zu treten. Da ist zunächst sein Stellvertreter Ayman al-Zawahiri. Der hochintelligente ägyptische Chirurg gilt als Stratege und "Gehirn" von al-Qaida. Er wird das Netzwerk operativ führen, allerdings neigt er zum Polarisieren, zudem fehlt ihm das Charisma Bin Ladens.
Dann gibt es den "Bin Ladin des Internets", den Imam und US-Staatsbürger jemenitischer Abstammung, Anwar al-Awlaki. Seine hasserfüllten Predigten im Internet erreichen Millionen Muslime, etliche Attentate wie der Amoklauf eines islamischen Armee-Psychiaters 2009 mit 13 Toten im texanischen Fort Hood gehen auf seinen Einfluss zurück. Awlaki hat vermutlich den Rang eines Regionalkommandeurs bei al-Qaida und wirbt neue Rekruten. Aber er hat, anders als Bin Laden, nicht den Mythos des Kriegsveteranen.
Der einäugige Mohammed Ilyas Kaschmiri, vermutlich Drahtzieher in Deutschland geplanter Anschläge, ist zwar ein solcher Veteran. Der Pakistaner gilt aber als äußerst brutal und als spiritueller Führer daher ungeeignet.
Auch der Libyer Abu Jahja al-Libi, nach al-Zawahiri höchstrangiger Chefplaner und Militärführer von al-Qaida, hat keinesfalls die persönliche Strahlkraft eines Osama Bin Laden.
Es wird vermutet, dass sich al-Qaida in Kürze mit Anschlägen für die Tötung ihres spirituellen Führers rächen wird, um unverminderte Schlagkraft unter Beweis zu stellen. Mittelfristig jedoch droht dem Terrornetzwerk ein Zerfall. Osama Bin Laden war ein einigendes Element für die kulturellen und ideologisch teilweise äußerst unterschiedlichen Islamistengruppen von Algerien bis Tschetschenien.
Weniger gefährlich dürfte das Terrornetzwerk im Falle einer weiteren Zersplitterung allerdings kaum werden. Zahlreiche unabhängig voneinander operierende Terrorzellen ohne Verbindungen sind für Fahnder erst recht ein Albtraum.
Der Publizist und Terrorismus-Experte Rolf Tophoven sagte: "Zu glauben, dass wir jetzt keine Terroranschläge mehr haben, wäre eine Illusion." Al-Qaida und die Unterorganisationen seien schon lange nicht mehr auf die operativen Fähigkeiten Bin Ladens angewiesen. "Die Führungsperson von al-Qaida ist zwar tot, aber die Ideologie bleibt", sagte Tophoven.