Hamburg. Flugzeug-Chef Christian Scherer über den Wettbewerber Comac, Produktionsverzögerungen und eine neue Endmontagelinie in Hamburg.

Christian Scherer hat viele Kindheitserinnerungen an Hamburg. So lernte er beispielsweise auf der Elbe das Segeln. Aufgewachsen ist er allerdings in Toulouse, wo sein Vater bei Airbus als Testingenieur arbeitete. Nach seinem Marketingstudium in Ottawa und Paris trat er 1984 ebenfalls in den Konzern ein. Er übernahm verschiedene Positionen im Topmanagement bei Airbus, mit Stationen in München, Toulouse und den USA.

Seit Jahresanfang ist der 62-jährige Chef der mit Abstand wichtigsten Sparte: den zivilen Flugzeugen. In dieser Funktion kommt er alle paar Wochen regelmäßig nach Finkenwerder – unsere Redaktion traf ihn dort zum Exklusivinterview und sprach mit ihm über die Konkurrenz aus China, die massiven Probleme in der Lieferkette und die Sicherheit der Luftfahrt.

Herr Scherer, 2024 begann schlecht für die Luftfahrt: Erst brannte eine A350 nach einem Crash mit einem Flugzeug der Küstenwache auf der Landebahn in Tokio komplett aus. Wenige Tage später löste sich im Steigflug ein Rumpfteil aus einer Boeing 737 Max von Alaska Airlines. Von Boeing folgten weitere schlechte Nachrichten. Ist Fliegen noch sicher?

Christian Scherer: Ich will die beiden Vorfälle nicht verharmlosen. Statistiken zeigen: Die Luftfahrt ist und bleibt mit großem Abstand das sicherste Verkehrsmittel. Sie ist sogar so sicher geworden, dass jedes Ereignis heute für noch größere Aufmerksamkeit sorgt. Die Ereignisse bei Boeing werfen natürlich einen Schatten auf unsere Industrie, aber der Drang zum Fliegen und das Vertrauen der Menschen in die Luftfahrt sind nicht infrage gestellt.

Boeing kämpft immer wieder mit Produktions- und Qualitätsproblemen. Profitiert Airbus davon, weil Boeing-Kunden bei Ihnen kaufen wollen?

Das Telefon klingelt schon (lacht). Aber mal ernst: Es kommt uns nicht zugute. Wir sind bei der A320-Familie bis Anfang der 2030er-Jahre ausgebucht, bei Langstreckenfliegern bis Ende dieses Jahrzehnts. Die Nachfrage von Kunden, die von Boeing vielleicht frustriert sind, können wir nicht bedienen. Airbus profitiert von den Boeing-Problemen nicht. Der Weltmarkt braucht auch eine gesunde Konkurrenz.

Airbus: „Die gesamte Industrie hat Kompetenzen in den Covid-Zeiten verloren“

Anfang Januar 2024 bricht aus einer Boeing 737 Max im Steigflug ein Fensterelement heraus.
Anfang Januar 2024 bricht aus einer Boeing 737 Max im Steigflug ein Fensterelement heraus. © picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Uncredited

Airbus kämpft mit Schwierigkeiten in den Lieferketten. Wie sehen diese konkret aus?

Die Lage ist und bleibt schwierig. Der Großteil unserer Lieferkette ist gesund und liefert. Aber es gibt auch andere, schwache Glieder in der Kette. Sie bringen das System zum Stolpern, beginnend bei einigen Topzulieferern. Es betrifft Motoren, Fahrwerke, Kabinenelemente. Und oft zieht es sich bis in die vierte, fünfte Stufe nach unten in der Lieferkette, bis zur Fertigung von kleinen Teilen, die eine Flugzeugauslieferung aufhalten können. Wir sprechen mit vielen dieser Firmen und haben Dutzende von Leuten bei unseren Zulieferern im Einsatz, wie zum Beispiel Ingenieure, die bei Problemen vor Ort gezielt weiterhelfen können. Wir kaufen auch pauschal Rohmaterial ein und geben dieses an unsere Lieferanten weiter, damit diese von unseren Preisen profitieren können. Aber sobald das eine Feuer gerade gelöscht ist, flammt ein anderes auf.

Was ist für die Zulieferer das Hauptproblem?

Die gesamte Industrie hat Kompetenzen in den Covid-Zeiten verloren. Ein Teil der Arbeitnehmer verabschiedete sich aus der Luftfahrt in andere Branchen. Viele erfahrene Mitarbeiter sind in Frührente gegangen. Dazu kommen die geopolitische Situation und damit verbundene Logistikprobleme. Nachdem die Huthi-Rebellen im Roten Meer ihre Angriffe starteten und Reedereien daraufhin den Suezkanal nicht mehr befuhren, haben wir das sofort gespürt. Von und nach Asien kommen und gehen viele Transporte. Wenn man um Afrika herumfahren muss, dauert das drei Wochen länger. Diese Wochen muss man dann in der Produktion wieder aufholen. In der Vergangenheit waren Rohmaterialien, Stahl, Halbleiter ein Engpass, morgen könnte es etwas anderes sein. Die Zulieferkette ist noch sehr fragil und fragmentiert, es schreit nach Konsolidierung.

Etwa 18.000 fest angestellte Mitarbeiter in Hamburg – so viele wie nie

Große Probleme bereiten in der Branche die Triebwerke von Pratt & Whitney, die viele Flieger der A320neo-Familie antreiben. Der US-Konzern ruft rund 3000 Stück zurück. Erhalten Sie solche Motoren zu spät, um Ihre neuen Maschinen auszuliefern?

Die neuen Triebwerke sind hervorragend bezüglich des Spritverbrauchs, sogar teilweise effizienter als geplant – sie verbrauchen aber mehr Material als geplant. Die Teile müssen schneller ausgetauscht werden, das treibt die Wartungskosten nach oben. Das wurde von der Industrie unterschätzt – und betrifft im Übrigen nicht nur Pratt & Whitney. Insofern fehlt es jetzt an Teilen. Es trifft sowohl Kunden, die ihre Triebwerke austauschen müssen, als auch unsere Endmontagelinien, an die neue Motoren geliefert werden sollen. In Einzelfällen kann es vorkommen, dass uns Motoren für die Auslieferungen neuer, ansonsten fertiggestellter Flieger fehlen. Wir haben gelernt, langfristiger mit unseren Triebwerks-Lieferanten zu planen. Auch haben wir ein Frühwarnsystem aufgebaut, das uns hilft, Engpässe kommen zu sehen, und so nicht überrascht zu werden.

Airbus-Vorstandschef Guillaume Faury an einem Triebwerk für den A321. Die Motoren des US-Herstellers Pratt & Whitney machen Probleme.
Airbus-Vorstandschef Guillaume Faury an einem Triebwerk für den A321. Die Motoren des US-Herstellers Pratt & Whitney machen Probleme. © FUNKE Foto Services | Marcelo Hernandez / FUNKE Foto Services

Werden Sie angesichts dieser Rahmenbedingungen das Ziel schaffen, in diesem Jahr rund 800 Flugzeuge auszuliefern?

Bis heute haben wir detaillierte Pläne und arbeiten natürlich daran, unser Ziel zu erreichen, aber wir sind von Dritten in unserer Lieferbasis abhängig, und ich sehe eine Häufung von Risiken, die unsere Teams vor große Herausforderungen stellen.

Sie wollen die Produktion auf 75 Maschinen der A320-Familie pro Monat Ende 2026 erhöhen. Müssen Sie dafür Personal aufbauen?

Wir haben in Hamburg heute etwa 18.000 fest angestellte Mitarbeiter – so viele wie nie. Seit 2022 haben wir Tausende Mitarbeiter eingestellt. In der Produktion werden wir sicherlich weiter einstellen, aber nicht mehr mit derselben Dynamik. Der Grund: Wir haben in Teilen bewusst übereingestellt, teilweise auch Leute, die keine Luftfahrterfahrung haben. Bis die Kollegen an Flugzeugen arbeiten dürfen, kann es schon mal sechs bis acht Monate dauern.

Neue A321XLR ist in Hamburg verankert

War es ein Fehler, in der Corona-Krise Jobs abgebaut zu haben?

Nein, es ging damals ums Überleben. Wir haben uns während der Covid-Zeit bemüht, die Mitarbeiter in der Produktion zu halten. Allerdings haben vor allem die Älteren mit 30, 40 Jahren Erfahrung Angebote zur Frührente genutzt. Unser Unternehmen hat damals die richtigen Entscheidungen getroffen, die Produktionsraten heruntergefahren, beim A320 um ein Drittel, bei den Großraumflugzeugen A350 und A330 sogar um 50 Prozent. Das hat uns ermöglicht, den Sturm zu durchsegeln. Da gab es keine gute oder falsche Entscheidung. Man konnte nur den besten Kompromiss-Kurs fahren. Und ich glaube, das ist uns recht gut gelungen.

Konzernweit soll es bald zehn Endmontagelinien für die A320-Familie geben, in Tianjin (China) und Mobile (USA) kommt jeweils eine zweite hinzu. Gibt es Überlegungen für eine fünfte in Hamburg?

Solche Überlegungen gibt es immer, aber ich kann Ihnen hier keine „News“ bieten. Wichtig ist: Hamburg ist und bleibt unser Kompetenzzentrum für unser Mittelstreckenprogramm, die A320-Familie. Und während die anderen Endmontagelinien eher einfache Versionen bauen, werden hier die komplexeren Versionen entwickelt und gefertigt. Zudem ist auch die neue A321XLR in Hamburg verankert. Sie ist dank eines neuen, fest eingebauten Tanks im Rumpf des Flugzeuges auf der Langstrecke zu Hause und wird Airlines wie Passagieren ein völlig neues Angebot von Langstreckenverbindungen eröffnen.

Airbus: Indien ist der am stärksten wachsende Markt im Luftverkehr

Konkurrenz für die A320-Familie gibt es aus China mit der neuen Comac C919. Fürchten Sie diese?

Ja, Comac ist ein aufkommender Wettbewerber, den wir sehr ernst nehmen. Wir sind im Übrigen nicht gerade glücklich, dass unsere Zulieferer ihr Equipment auch dieser neuen Konkurrenz verkaufen wollen. Unsere fortdauernde Aufgabe ist es hier, besser zu sein und zu bleiben. Zum Glück hat Comac bisher nichts Neues erfunden. Aber wir lernen, dass wir unseren Partnern bei der nächsten Generation von Flugzeugen einen Riegel vorschieben sollten, unseren Konkurrenten die gleichen Technologien anzubieten, die sie mit uns teilen. Das Modell eines Flugzeugherstellers könnte sich somit etwas wandeln, tiefer werden, um mehr Kerntechnologien zu beherrschen und einen gewissen Vorsprung zu behalten. Wir müssen mehr selbst machen. Im Großen und Ganzen wird der Weltmarkt aber weiter wachsen, sodass Airbus, Boeing und Comac alle davon leben können.

China macht mit der Comac C919 Airbus und Boeing Konkurrenz. Die Produktion wird im Reich der Mitte langsam hochgefahren.
China macht mit der Comac C919 Airbus und Boeing Konkurrenz. Die Produktion wird im Reich der Mitte langsam hochgefahren. © picture alliance/dpa/HPIC | Fei Ji

Was ist der derzeit am stärksten wachsende Markt für Flugzeuge?

Indien mit einem jährlichen Plus von mehr als sieben Prozent im Luftverkehr. Zum Vergleich: In der westlichen Welt sind es eher ein bis zwei Prozent. Indien hat enormes Potenzial. Es ist das bevölkerungsreichste Land der Welt, die Wirtschaft wächst stark, die Mittelschicht entwickelt sich sehr schnell, und sie will fliegen.

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Klingt so, als ob Sie sich eine Endmontagelinie in Indien vorstellen könnten?

Politiker sehen es sehr gern, wenn fertige Flugzeuge aus einer Halle rollen. Im militärischen Bereich eröffnen wir im Herbst für das Transportflugzeug C295, das ursprünglich in Spanien gebaut wurde, eine Endmontagelinie in Indien. Und unsere Helikopter-Sparte beabsichtigt, zusammen mit der indischen Tata Group eine Endlinie für unseren H125 Hubschrauber im Land zu eröffnen. Wir haben in Indien bereits etwa 3000 hoch qualifizierte Mitarbeiter im Engineering und der IT und kaufen viel von den dortigen Zulieferern. Für die Inder sollte die Wertschöpfung das Entscheidende sein, nicht das Symbol einer Endmontagelinie im Land.