Hamburg. Auf die beiden weltgrößten Flugzeugbauer lauern 2024 Gefahren. Auch wenn die Europäer vor den Amerikanern klar die Nase vorn haben.

Es war ein katastrophaler Jahresstart für die beiden größten Flugzeugbauer der Welt. Auf dem Flughafen von Tokio-Haneda crasht kurz nach der Landung am 2. Januar ein Airbus A350 mit einem kleineren Geschäftsflieger zusammen. Kerosin gerät in Brand.

Aber im Gegensatz zu den Passagieren des Bombardier-Jets kommen alle 379 Personen an Bord des Großraumflugzeugs mit dem Leben davon – auch wenn der A350 ausbrennt und zum ersten Totalverlust in der Geschichte des Ende 2014 erstmals ausgelieferten modernen Langstreckenjets wird.

Airbus: Hamburger Flugzeugbauer verkraftet katastrophalen Jahresstart besser als Boeing

Wenige Tage später erlebt Boeing das (nächstes) Worst-Case-Szenario. Bei einer noch recht jungen 737 Max von Alaska Airlines gibt es kurz nach dem Start einen Knall. Im Steigflug wird ein Fensterteil aus der Maschine gerissen. Der Sitz direkt daneben ist unbesetzt, ein Passagier am Mittelgang kommt mit viel Schrecken und verhältnismäßig leichten Verletzungen davon.

Zwar verlief der Jahresauftakt für die beiden Weltmarktführer jeweils schlimm – doch Monate später kämpft mit den Nachwehen nur noch Boeing. Das Ausbrennen des A350 war einem Unfall geschuldet, vermutlich nach missverständlicher Kommunikation.

Am 2. Januar 2024 gerät ein Airbus A350 in Tokio-Haneda nach einem Crash am Boden mit einem anderen Flugzeug in Brand und wird ein Opfer der Flammen.
Am 2. Januar 2024 gerät ein Airbus A350 in Tokio-Haneda nach einem Crash am Boden mit einem anderen Flugzeug in Brand und wird ein Opfer der Flammen. © picture alliance/dpa/Jiji Press | Yuya Yamamoto

Boeings Fenstersturz beruht hingegen auf massiven Problemen in der Fertigung. Die Krise bei dem traditionsreichen US-Hersteller hält auch gut fünf Jahre nach den zwei Abstürzen von 737 Max-Maschinen mit zusammen knapp 350 toten Menschen an. Unsere Redaktion gibt einen Überblick, wie die beiden Luftfahrtkonzerne aufgestellt sind.

Airbus und Boeing haben wieder prall gefüllt Auftragsbücher

Bei beiden Herstellern sind die Bestellbücher dick gefüllt. Boeing wies Ende März 6259 noch zu bauende Maschinen aus. Der Großteil davon entfällt mit 4828 Exemplaren auf den Kurz- und Mittelstreckenjet 737. Zudem soll Boeing mehr als 1400 Langstreckenflieger der Typen 767, 777 und 787 liefern.

Bei Airbus ist das Auftragsbuch sogar 8626 Flieger dick. Mit gut 7700 Stück entfällt der Großteil auf Flugzeuge mit einem Mittelgang. Dazu gehören neben der etwa hälftig in Hamburg zusammengeschraubten A320-Familie die in Nordamerika gefertigte A220-Reihe. Von den in Toulouse endmontierten Großraumfliegern A330 und A350 soll der europäische Flugzeugbauer noch etwa 860 Stück an Airlines liefern.

Airbus sammelt im ersten Quartal mehr Bestellungen ein als Boeing

Während Airbus bei den Fliegern für die Kurz- und Mittelstrecke klar vorn liegt, sind die Langstreckenjets von Boeing stärker gefragt. Für die Zukunft sehen beide Hersteller viel Potenzial für weitere Aufträge. Airbus erwartet bis 2042 global einen Bedarf von 40.850 neuen Passagier- und Frachtflugzeugen, darunter 32.630 Flieger mit einem Mittelgang. Boeing kalkuliert sogar mit 42.600 neuen Flugzeugen, die der Markt in den nächsten 18 Jahren benötigt.

Im ersten Quartal des laufenden Jahres meldete der US-Konzern bisher den Abschluss von Kaufverträgen über netto 125 Exemplare. Bei Airbus waren es mit 170 sogar mehr als vor zwölf Monaten. Und im Vorjahr legten beide Unternehmen Topwerte vor: die Amerikaner über 1314 Maschinen nach Stornierungen, die Europäer über 2094 – so viele wie nie zuvor.

Auslieferungen – Airbus liegt klar vor Boeing

Seit 2019 darf sich Airbus mit dem prestigeträchtigen Titel des größten Flugzeugbauers der Welt schmücken. Vom damaligen Auslieferungsrekord von 863 Maschinen ist man nach der Corona-Krise zwar noch ein gutes Stück entfernt, im vergangenen Jahr waren es aber immerhin schon wieder 735 Flieger. Dieses Jahr werden rund 800 angepeilt. Von Januar bis März waren es 142.

Der Erzrivale hinkt weit hinterher. 528 neue Passagier- und Frachtmaschinen des US-Herstellers wechselten 2023 zu Airlines, im ersten Quartal 2024 waren es nur 83. Für das laufende Jahr gibt es keine Auslieferungsprognose. Die Begründung von Konzernchef Dave Calhoun: Man müsse zunächst hochwertige Flugzeuge liefern. Denn daran krankt es momentan massiv bei Boeing, wie der Vorfall der 737 Max von Alaska Airlines belegt.

Was die größten Probleme für Boeing sind

Das beim Steigflug herausgeflogene Fensterteil war im Boeing-Werk für Nacharbeiten herausgenommen worden. Nach ersten Analysen geht die Unfallermittlungsbehörde NTSB davon aus, dass beim Wiedereinbau vier Befestigungsbolzen an dem Rumpfteil „vergessen“ wurden.

Ein Inspektor der Unfallermittlungsbehörde NTSB untersucht den Rumpf der Boeing 737 Max, aus dem das Fensterteil herausgerissen wurde.
Ein Inspektor der Unfallermittlungsbehörde NTSB untersucht den Rumpf der Boeing 737 Max, aus dem das Fensterteil herausgerissen wurde. © picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Uncredited

Es gebe Hinweise darauf, dass dieses Rumpfteil immer weiter hochgerutscht sei, sagte die NTSB-Chefin Jennifer Homeday in einer Anhörung vor dem US-Senat. Im 154. Flug der Maschine brach es schließlich heraus.

Boeing baute Fensterteil aus, ohne dies zu dokumentieren

Pikant: Die Luftfahrtbranche legt viel Wert auf hohe Sicherheitsstandards. Jeder Arbeitsschritt unterliegt mindestens dem Vier-Augen-Prinzip und muss dokumentiert werden – doch Boeing konnte keine Unterlagen zu dem Ausbau finden und den Ermittlern zur Verfügung stellen.

„Das Bewusstsein, die Vorschriften zu befolgen, ist bei Boeing erodiert“, sagte der Hamburger Branchenexperte Heinrich Großbongardt im Gespräch mit unserer Redaktion. „Mit einer schlechten Unternehmenskultur kann man kein Topprodukt herstellen. Es muss massiv an der Sicherheitskultur gearbeitet werden.“

Mehrere Topmanager von Boeing treten zurück

Das fängt in der Führungsspitze an. Vor Kurzem wollten die Chefs großer US-Fluglinien ein Treffen mit dem Verwaltungsrat – ohne Boeing-CEO Dave Calhoun. „Das ist ein unglaubliches Misstrauensvotum“, so Großbongardt: „Ich kann mich an keinen vergleichbaren Fall erinnern. Damit war Calhoun nicht mehr zu halten.“

Boeing-Chef Dave Calhoun wird nach dem Debakel um die Alaska-Airlines-Maschine Ende 2024 zurücktreten.
Boeing-Chef Dave Calhoun wird nach dem Debakel um die Alaska-Airlines-Maschine Ende 2024 zurücktreten. © picture alliance / NurPhoto | Aaron Schwartz

Wenige Tage später kündigte Calhoun seinen Rückzug zum Jahresende an. Stan Deal, der Leiter des Passagierflugzeuggeschäfts, verließ das Unternehmen Ende März mit sofortiger Wirkung. Verwaltungsratschef Larry Kellner wird im Mai ausscheiden. Der US-Konzern muss also eine neue Leitungsspitze finden – und das mitten in der Diskussion über die Qualitätsprobleme.

Boeing: Probleme mit dem Fensterteil gab es bei mehreren Maschinen

Fehlende Schrauben an dem bei Alaska Airlines raus geflogenen Fensterteil wurden gleich bei mehreren Fliegern festgestellt – es handelte sich also nicht um einen Einzelfall. Mitarbeiter der US-Luftaufsichtsbehörde deckten nach Medienberichten massive Mängel in der Produktion auf. Sowohl bei Boeing als auch beim wichtigen Zulieferer Spirit Aerosystems, den Boeing vor Jahren verkaufte und nun zurück in den Konzern holen will.

Boeing soll 33 von 89 Prüfungen nicht bestanden haben. Bei Spirit sollen in 97 Fällen Vorschriften nicht eingehalten worden sein. So hätten Mechaniker bei dem Zulieferer eine Hotel-Schlüsselkarte als Spaltmaß genutzt, um die Versiegelung einer Tür zu prüfen, und flüssige Seife als Schmiermittel – beides entsprach natürlich nicht den vorgeschriebenen Fertigungsprozessen.

Experte: Qualitätsprobleme bei Boeing dürften noch lange andauern

Eigentlich wollte Boeing seine Produktion des A320-Pendants 737-Familie hochfahren. Ende 2023 wurden 38 Maschinen pro Monat gefertigt. Wegen der Qualitätsprobleme lässt die FAA dies aber nicht zu. Das sieht der Konzern offenbar ein und schöpft derzeit selbst die maximal mögliche Anzahl von 38 nicht aus.

Blick in die Produktion von Boeings 737 Max-Reihe in Renton (US-Bundesstaat Washington). Prüfer stellten reihenweise Verstöße fest.
Blick in die Produktion von Boeings 737 Max-Reihe in Renton (US-Bundesstaat Washington). Prüfer stellten reihenweise Verstöße fest. © imago images/ZUMA Wire | IMAGO stock

Die Produktion werde zum Teil angehalten, stattdessen stünden Workshops und Sicherheitsbriefings auf der Agenda, sagte Großbongardt: „Von Steigerungen der Produktionsrate muss man derzeit nicht reden.“ Bis die Qualität der Produktion wieder auf einem soliden Fundament stehe, dürften seiner Einschätzung nach eineinhalb bis zwei Jahre vergehen – in der Zeit wird Airbus weiter davonziehen.

Die größten Probleme für Airbus

Häme gibt es von den Europäern angesichts der Schieflage des Konkurrenten in der Nähe von Seattle übrigens nicht. „Die Tatsache, dass es unserem Mitwettbewerber schlecht geht, ist für uns keinesfalls eine Botschaft der Freude“, sagte Airbus-Manager Marco Wagner vor Kurzem. Es zeige, dass man die Qualitätssicherung hochhalten müsse, und sei „ein Warnzeichen, um uns aufmerksamer zu machen“.

Airbus will die Fertigungsrate von derzeit 50plus Maschinen der A320neo-Reihe pro Monat auf 75 im Jahr 2026 hochfahren. „Der große Stolperstein dabei ist und bleibt für Airbus die Zuliefererschiene“, so Großbongardt.

Airbus-Zulieferer stellt Hochfahren der Produktion vor Herausforderungen

Der Flugzeugbauer hängt massiv von Vorprodukten ab. Aber die zum Teil mittelständischen Firmen stehen vor Herausforderungen: Während der Corona-Krise fuhren sie wie Airbus die Produktion zurück und bauten Personal ab. Sie haben aber nicht die Strahlkraft des Großkonzerns, um Mitarbeiter in Zeiten des Fachkräftemangels schnell wieder zu akquirieren. Zudem müssen sie in den Hochlauf investieren – das erschwert die Ausweitung der Produktion zusätzlich.

Der ein oder andere bange Blick der Europäer dürfte auch in Richtung USA gehen. Dort kämpft der Konzern Pratt & Whitney, der die spritsparenden Triebwerke für den Verkaufsschlager A320neo herstellt, mit Qualitätsproblemen. Jahrelang wurde bei der Herstellung von Hochdruck-Turbinenscheiben ein Pulvermetall verwendet, das sich als möglicherweise schadhaft entpuppte.

Materialfehler bei Triebwerkshersteller könnten Airbus-Ziele gefährden

Die Folge: Rund 3000 Getriebefan-Triebwerke müssen bis 2026 inspiziert werden. Von diesen Motoren hängen jeweils zwei an einem Flieger der A320neo-Familie. Hunderte dieser teils vor Jahren ausgelieferten Flieger und von den Fluggesellschaften fest im Flugplan eingeplanten Maschinen müssen wohl zeitgleich monatelang am Boden bleiben. „Dadurch ist der Druck der Kunden, neue Flugzeuge zu bekommen, deutlich höher“, sagte Großbongardt.

Der Triebwerksbauer muss also den Spagat schaffen, ausreichend Ersatzteile für den Austausch bei den alten Motoren herzustellen sowie parallel die Produktion neuer Antriebe hochzufahren. Ob dies gelingen werde, sei schwer vorherzusagen, sagte Großbongardt: „Das ist ein Risiko für die Auslieferungsziele von Airbus.“

Für Hamburger Experten ist Airbus in einer „Traumsituation“

Boeing ist von diesem Problem übrigens nicht betroffen. Der US-Konzern verwendet für die 737-Reihe nur Antriebe des Herstellers CFM International. Diese können von den Airlines auch bei der Airbus-A320neo-Familie als alternative Motoren gewählt werden. CFM und Pratt & Whitney teilen sich bei der A320neo-Familie etwa den Markt.

Der Hamburger Luftfahrtexperte Heinrich Großbongardt sieht Airbus momentan in einer „Traumsituation“.
Der Hamburger Luftfahrtexperte Heinrich Großbongardt sieht Airbus momentan in einer „Traumsituation“. © FUNKE Foto Services | Roland Magunia

Fazit: „Airbus befindet sich abgesehen von der Lieferkettensituation und möglichen Auswirkungen der Pratt-&-Whitney-Probleme in einer Traumsituation“, sagte Großbongardt. „Die Kunden wollen die Flugzeuge des Konzerns, die Auftragsbücher sind auf Jahre voll. Bis Boeing bei den Auslieferungen wieder herankommt, sind wir mindestens am Ende der 2020er-Jahre.“

Die Bewertung an der Börse

Die Boeing-Aktie ist nach dem Fenstersturz eingebrochen. Um die Marke von 260 US-Dollar notierten die Anteilsscheine zum letzten Jahreswechsel. Derzeit sind es gut 170 Dollar. Der heftige Zwischenfall führt auch zu massiven finanziellen Belastungen. Alaska Airlines erhielt rund 160 Millionen Dollar, weil die Fluglinie Maschinen am Boden stehen lassen musste.

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Dennoch sind die Analysten positiv gestimmt. „Übergewichten“ empfiehlt die US-Bank JPMorgan. Der US-Konzern habe bezüglich der Auslieferungszahlen die Erwartungen erfüllt. Allerdings wurde das Kursziel von 230 auf 210 US-Dollar gesenkt. Auf „Outperform“ mit einem Kursziel von 225 Dollar stuft die kanadische Bank RBC die Titel ein. An der Börse wird Boeing derzeit mit rund 106 Milliarden Dollar (etwa 100 Milliarden Euro) bewertet.

Airbus hat höheren Börsenwert als Boeing

Mit rund 130 Milliarden Euro Marktkapitalisierung ist Airbus an den Aktienmärkten mittlerweile höher bewertet als der Erzrivale. Der Ein-Jahres-Chart zeigt eine klare Tendenz: Der Kurs der europäischen Aktie geht klar nach oben, stieg von knapp 130 auf gut 160 Euro.

Bei den Analysten scheiden sich aber die Geister bezüglich der Aussichten. „Übergewichten“ mit einem Kursziel von 202 Euro empfiehlt die britische Investmentbank Barclays. „Verkaufen“ rät die Hamburger Privatbank Berenberg und sieht den fairen Wert bei 106 Euro. Die Begründung: Die für das laufende Jahr gesetzten Ziele seien zwar erreichbar, darüber hinaus gebe es aber nicht viel Potenzial.