Hamburg. Start-up Bluu Seafood züchtet aus Zellen echtes Fischfleisch. Wo es schon im nächsten Jahr auf den Markt kommen könnte.

Die Adresse liegt etwas versteckt in einem Gewerbepark im Hamburger Westen. Ein unscheinbares Bürogebäude, weit weg von Elbe, Hafen und Fischmarkt. Trotzdem könnte das, was hier geplant ist, die globale Fischversorgung einmal kräftig verändern.

Nach monatelangem Umbau hat das Start-up Bluu Seafood den Umzug in eine neue Firmenzentrale abgeschlossen und startet an diesem Donnerstag eine Pilotproduktion. Allerdings ganz anders, als die meisten sich das wahrscheinlich vorstellen. Fischverarbeitung hat hier nichts mehr mit Handarbeit zu tun. Das Food-Tech-Unternehmen gehört weltweit zu den Pionieren bei der Herstellung von Fisch aus dem Labor.

Fisch aus der Petrischale: Produktion startet in Hamburg

Die Überfischung der Meere ist ein globales Problem. Mehr als ein Drittel der kommerziell genutzten Fischbestände ist laut Umweltschutzorganisation WWF davon betroffen. In Europa ist es noch dramatischer. „Wir brauchen eine Alternative, um den wachsenden Hunger in der Welt stillen zu können“, sagt Sebastian Rakers, Mitgründer und Geschäftsführer von Bluu Seafood, bei einem Ortstermin mit dem Abendblatt. Auch die Fischzucht aus Aquakultur könne den steigenden Bedarf angesichts von Klimawandel und Umweltbelastungen auf Dauer nicht decken.

Der promovierte Meeres- und Zellbiologe Rakers forscht seit 2008 an der zukunftsweisenden Technologie. Zunächst am Fraunhofer-Entwicklungszentrum für Marine und Zelluäre Biotechnologie in Lübeck und nach der Ausgründung 2020 zusammen mit Geschäftspartner Simon Fabich und einem Expertenteam von Meeres- und Zellbiologen sowie Gewebe- und Lebensmitteltechnikern im eigenen Unternehmen. Im vergangenen Jahr war die Geschäftsführung um Fabian Friede für den kommerziellen Bereich erweitert worden.

Überfischung der Meere ist ein globales Problem

2022 hatte Bluu Seafood erstmals zellbasierte Fischprodukte aus dem Bioreaktor vorgestellt. Das sind anders als viele vegane Fleischalternativen keine Ersatzprodukte, sondern echter Fisch. Nur im Labor gezüchtet. Jetzt verlässt das Start-up, das bei Investoren in zwei Finanzierungsrunden bislang 23 Millionen Euro eingesammelt hat, diesen Status und will mit der ersten Pilotproduktion Europas beweisen, dass sich Fischfleisch auch in größerem Maßstab kultivieren und verzehrfertig verarbeiten lässt.

Ein Türschild gibt es inzwischen, darauf das Firmenlogo mit zwei stilisierten Fischen. Auch der Eingangsbereich ist eingerichtet. Kaffeetresen mit imposanter Espressomaschine, große Loungeecke, von der Decke baumeln zwei Schaukelsessel. Typisch Start-up. Die gesamte Einrichtung, betont Firmenchef Rakers, habe man von den Vormietern übernommen. Nur wenige Meter weiter sieht es allerdings ganz anders aus.

Modernste Zell- und Molekularbiologielabore auf 2000 Quadratmetern

Auf drei Etagen sind modernste Zell- und Molekularbiologielaborräume in unterschiedlichen Größen entstanden, ausgestattet mit Hightechgeräten und Anlagen. Dazu Prozessentwicklungsräume und eine Testküche. Die meisten der 35 Beschäftigten tragen weiße Kittel statt Hoodies. Um Verunreinigungen zu verhindern, ist der Zutritt in den Produktionsbereich nur mit Schuhüberziehern erlaubt.

„Wir arbeiten mit Zellen, und am Ende stellen wir Fisch her“, fasst Sebastian Rakers das hochkomplexe Verfahren zusammen. Der Prozess, der für Laien an Science Fiction erinnert, beginnt in der Petrischale mit der Entwicklung von Zelllinien. Dafür werden aus einem Stück Fisch, atlantischem Lachs oder Regenbogenforelle Stammzellen isoliert. Damit daraus einmal Fischfleisch wird, müssen sie sich zunächst vermehren.

Mehrere Monate bis zu einem Jahr dauert es, bis eine neue Zelllinie entsteht. „Das ist unser Unternehmensschatz“, sagt Bluu-Seafood-Gründer Rakers. Die Qualität der Muskel-, Fett- und Bindegewebszellen ist entscheidend für das Endprodukt.

Fisch aus der Petrischale: Einblick ins Labor der Zukunft

Ohne echten Fisch geht es auch bei der Fischproduktion im Labor des Hamburger Start-ups Bluu Seafood nicht. Die Stammzellen werden aus einem Stück Lachs isoliert. Dafür wird ein Stück in Größe einer Briefmarke aus einem Filet geschnitten.
Ohne echten Fisch geht es auch bei der Fischproduktion im Labor des Hamburger Start-ups Bluu Seafood nicht. Die Stammzellen werden aus einem Stück Lachs isoliert. Dafür wird ein Stück in Größe einer Briefmarke aus einem Filet geschnitten. © FUNKE Foto Services | Thorsten Ahlf
Als nächstes wird das Stück weiter zerkleinert.
Als nächstes wird das Stück weiter zerkleinert. © FUNKE Foto Services | Thorsten Ahlf
Danach gibt die Labormitarbeiterin den Lachs in ein Reagenzglas gegeben.
Danach gibt die Labormitarbeiterin den Lachs in ein Reagenzglas gegeben. © FUNKE Foto Services | Thorsten Ahlf
Die Fischzellen werden durch Zugabe eines Enzym-Mixes isoliert und anschließend mit einer Nährlösung versorgt.
Die Fischzellen werden durch Zugabe eines Enzym-Mixes isoliert und anschließend mit einer Nährlösung versorgt. © FUNKE Foto Services | Thorsten Ahlf
Ein Reagenzglas mit Fisch in einem Enzym-Mix im Labor von Bluu Seafood.
Ein Reagenzglas mit Fisch in einem Enzym-Mix im Labor von Bluu Seafood. © FUNKE Foto Services | Thorsten Ahlf
Das Wachstum der Fischzellen lässt sich nach einigen Tagen unter dem Mikroskop beobachten.
Das Wachstum der Fischzellen lässt sich nach einigen Tagen unter dem Mikroskop beobachten. © FUNKE Foto Services | Thorsten Ahlf
In sogenannten Bioreaktoren oder auch Fermentationsreaktoren werden die Fischzellen weiter vermehrt, um später in erheblich größeren Fermentern weiterzuwachsen.
In sogenannten Bioreaktoren oder auch Fermentationsreaktoren werden die Fischzellen weiter vermehrt, um später in erheblich größeren Fermentern weiterzuwachsen. © FUNKE Foto Services | Thorsten Ahlf
Das Endprodukt: Mit der Zugabe von Proteinen aus Soja, Erbsen und Weizen wird die Zellmasse zu einem Teig, aus der sich Fischstäbchen und Fischbällchen formen lassen.
Das Endprodukt: Mit der Zugabe von Proteinen aus Soja, Erbsen und Weizen wird die Zellmasse zu einem Teig, aus der sich Fischstäbchen und Fischbällchen formen lassen. © FUNKE Foto Services | Thorsten Ahlf
1/8

Aber statt in einem lebendigen Tier wachsen und teilen sich die Zellen in Glaskolben mit einer rosaroten Lösung, deren Bestandteile dem Futter von echten Lachsen oder Forellen entsprechen. Alles muss stimmen: Temperatur, Sauerstoffversorgung und die Nährstoffe. In einem dritten Arbeitsschritt, dem eigentlichen Produktionsprozess, geht das Wachstum in einem sogenannten Bio-Reaktor oder Fermenter weiter bis zum Endstadium.

Genau an diesem Punkt ist der Schritt von Forschung zu Produktion. Bislang hatte Bluu Seafood nur kleine Fermenter mit einem Fassungsvermögen von bis zu drei Litern zur Verfügung. Mit der Eröffnung des neuen Produktionsstandorts steigt die Gesamtkapazität mit einer neuen Anlage auf 65 Liter. Der Standort besitzt nun ein Ausbaupotenzial von bis zu 2000 Litern. „In jedem größeren Gefäß können wir mehr Zellen ernten“, sagt Geschäftsführer Sebastian Rakers.

In Hamburg steigt die Produktionskapazität von drei auf 65 Liter

Dabei werden mit einer Zentrifuge die Zellen von der Flüssigkeit getrennt. Auch wenn die weißlich durchsichtige Masse, die dabei herauskommt, auf den ersten Blick nichts mit frischem Fischfleisch zu tun hat: Mit der Zugabe von Proteinen aus Soja, Erbsen und Weizen in der Testküche lässt sich daraus ein Teigling formen und braten, der nicht nur aussieht wie ein Fischstäbchen oder Fischbällchen, sondern auch so riecht, sehr ähnlich schmeckt und einen vergleichbaren Nährstoffgehalt hat.

„Um einen Lachs in einer Aquakultur schlachtreif zu mästen, dauert es vier Jahren“, sagt Firmengründer Rakers. Bei dem Verfahren der industriellen Zellproduktion wachse die gleiche Menge in zwei Wochen. „Und das komplett kontrolliert, ganz ohne Tierleid und Umweltzerstörung, ohne Mikroplastik, Schwermetalle und Antibiotika.“

Zu schön, um wahr zu sein? Natürlich gibt es auch Kritik an der Fischproduktion im Labor. Dabei geht es um den großen Energieverbrauch, die hohen Kosten, die Verwendung von Kälberserum in der Nährflüssigkeit oder auch der Anreicherung mit pflanzlichen Proteinen, um dem Original möglichst nahezukommen.

In vier Jahren soll kultivierter Fisch Preise des Fischgroßhandels haben

Rakers und seine Kollegen verweisen darauf, dass die Entwicklung des Verfahrens erst jetzt aus der Forschung in die Produktion gehe. Inzwischen seien alle Prozesse so ausgereift, dass sie funktionieren, betont der Firmengründer. Unter anderem ist der Anteil der Fischzellen und der Proteingehalt in den Produkten erhöht worden, der Salzgehalt dagegen gesenkt. „Die große Herausforderung ist jetzt, die Produktion richtig zu skalieren.“

Mit der neuen Anlage will Bluu Seafood den ersten Schritt in Richtung industrielle Produktion gehen. „In Hamburg haben wir die idealen Bedingungen, weiterzuwachsen und die Herstellungskosten kontinuierlich zu senken. Damit legen wir den Grundstein für die Belieferung erster Märkte“, sagt Rakers. Wenn die Skalierungsmöglichkeiten und Rahmenbedingungen stimmten, könne Bluu Seafood schon in drei Jahren in der Lage sein, kultivierten Fisch zu Preisen des Fischgroßhandels anbieten zu können.

Mehr Wirtschaftsthemen

Trotzdem wird es noch einige Zeit dauern, bis der Fisch aus dem Labor auf Tellern in Deutschland landet. Testmarkt ist Singapur, weil dort die Zulassungsprozesse für sogenannte neue Lebensmittel weltweit am weitesten fortgeschritten sind. „Nach dem aktuellen Zeitplan können dort im Laufe des nächsten Jahres die ersten Produkte eingeführt werden“, sagt Sebastian Rakers. Los geht es mit Fischbällchen – mit und ohne Panade. Als nächste Schritte sind die Produkteinführung in den USA und danach auch in der Europäischen Union geplant. Parallel arbeitet Bluu Seafood an komplexeren Produkten wie Fischfilets und Sashimi.

Made in Hamburg: Laborgezüchteter Fisch geht in Produktion

Dass die Weltneuheit mit dem Zusatz „Made in Hamburg“ auf den Markt kommt, war ein langer Prozess. Auch Berlin, wo Bluu Seafood zwischenzeitlich eine Dependance hatte, stand zur Wahl. Als dem Food-Tech-Start-up die Räume auf dem Gelände der Marzipanfabrik in Bahrenfeld angeboten worden seien, habe das den Ausschlag gegeben. „Es hat alles gepasst, auch die Nähe zum früheren Forschungsstandort in Lübeck“, sagt Sebastian Rakers. Dazu kommt: „Es gibt viele Food-Start-ups in Hamburg. Die Vernetzung und die Unterstützung durch die Stadt sind gut.“