Hamburg. Das Abendblatt hat eine Einheit der Hamburger Polizei gut ein Jahr lang bei der Arbeit begleitet. Heute: Colin, Hauptkommissar.
Er wollte zur Polizei, seit er 13 oder 14 war. Das Problem: Colin geht zur Hauptschule, ist nicht besonders fleißig und verpasst es, Abitur zu machen. Und so scheitert die Bewerbung im ersten Anlauf. Nach mittlerer Reife, Handwerkslehre und Wehrdienst passt es dann Ende der 1990er-Jahre doch noch. Colin, heute 48 und Hauptkommissar, landet nach der Polizeiausbildung bei der Bereitschaftspolizei, später studiert er, arbeitet an der Davidwache, wechselt schließlich als Ausbilder an die Landespolizeischule.
Knapp fünf Jahre bleibt er hier, länger ist er nie am Stück an einer Dienststelle gewesen. In der Zeit werden seine Kinder geboren. „Das war eine sehr schöne Zeit, weil man da nur junge Leute um sich hat.“ Hier kann er ausprobieren, wie es ist, als Vorgesetzter betrachtet zu werden. Kann sich herantasten an die Frage, was man als Vorgesetzter tun sollte. Und auch: was besser nicht.
Polizei Hamburg: Bisse in den Unterarm
Zurück im Dienst auf dem Streifenwagen muss er sich erst einmal wieder an den Umgang mit psychisch nicht ganz so stabilen Menschen gewöhnen wie seinen Polizeischülern. So werden Colin und sein Partner in eine gynäkologische Tagesklinik gerufen, wo ein Streit zwischen Ärzten und Patientin eskaliert.
„Wir sollten vermittelt auf die Frau einwirken, aber plötzlich gab es eine große Rangelei mit ihr. Und dann hat sie mich so lange und andauernd in den Unterarm gebissen, dass der Arm stark anschwoll.“ Der 48-Jährige nennt das nach fünf Jahren an der Polizeischule die „harte Konfrontation mit der Realität auf der Straße“.
Wie Polizisten mit belastenden Einsätzen umgehen
Der belastendste Einsatz in fast 25 Jahren bei der Hamburger Polizei? Colin, der inzwischen als Dienstgruppenleiter in Billstedt arbeitet, muss nicht lange nachdenken: der Einsatz in der Friedrichshainstraße, wo im Dezember 2022 ein Drogenabhängiger offensichtlich in einem schizophrenen Schub seine Freundin mit mehr als 100 Messerstichen und -schnitten getötet hat. „Ich hatte Gott sei Dank nie zuvor und auch nie danach etwas erlebt, was mich emotional so mitgenommen hat.“
Das Gute für ihn: Er hat mit dem Thema abgeschlossen. Die Bilder vom blutüberströmten Einsatzort belasten ihn nicht mehr. Das Entsetzen über die Tat ist Vergangenheit. Was ihm, aber vor allem den jungen Kolleginnen geholfen hat, ist, in den Tagen danach über das Verbrechen, das Leid der Opfer und ihre Polizeiarbeit vor Ort zu sprechen. Sie sind am Tatort nochmals vorbeigefahren, waren füreinander da. Wer es brauchte, hat sich darüber hinaus Hilfe gesucht bei der psychosozialen Notfallversorgung für Einsatzkräfte. In der Aufarbeitung solcher belastenden Einsätze hat sich bei der Polizei viel positiv verändert – strukturell wie emotional.
Früher wurde Schwäche bei der Polizei nicht geduldet
„Ich erinnere Erzählungen von älteren Kollegen und weiß auch aus meiner ersten Zeit bei der Polizei: Viele gestandene männliche Polizisten haben früher Emotionen nicht zugelassen. Scheinbar hatten viele keine Probleme mit Einsätzen. Zumindest haben sie es so dargestellt. Aber die Wahrheit lag natürlich viel tiefer. Einige haben damals zu trinken angefangen, weil sie sich nicht öffnen konnten.“ Es sei es vereinzelt zu Suiziden gekommen.
Der Geist, der damals bei der Polizei herrschte, habe einen enorm hohen Druck entfacht, auch wenn das vielen Polizisten vielleicht gar nicht bewusst war. „Die empfundene Erwartungshaltung war so: Ihr müsst hart sein, ihr müsst mit den Dingen klarkommen, Schwäche wird nicht geduldet. Hier hat sich über die Jahre sehr viel zum Guten entwickelt.“
Polizei Hamburg: Steigender Frauenanteil wirkt sich positiv aus
Heute spüre man nichts mehr vom Geist der alten Polizei, Gefühle im Job zu verbergen. „Mit der Empathie, mit der ich mich heute meinen jungen Mitarbeitern widmen kann, und mit dieser Offenheit hätte ich den Chefs von früher gar nicht kommen müssen. Das dürfte sich über all die Jahre herausgewachsen haben.“
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Genauso herausgewachsen wie falsch verstandene Kameraderie und das Vertuschen von Vergehen? Über solche Verfehlungen bei der Polizei hatten die Hamburger Medien in den 1990er-Jahren mehrfach berichtet. In den vergangenen Jahren war das aber kein Thema mehr. Das Miteinander bei der Polizei habe sich nachhaltig verbessert, sagt Colin. Einen Grund macht der 48-Jährige im deutlich gestiegenen Anteil der Frauen bei der Polizei aus. „Sie bringen mehr Empathie mit, mehr Offenheit, einen anderen Blickwinkel auf bestimmte Phänomene.“ Das wirkt sich positiv nach außen auf die Einsätze aus, aber auch nach innen. „Das hat auch dazu geführt, dass sich das Verhalten vieler männlicher Kollegen entspannt hat.“